3 Edgar Steiger: Der Kampf um die neue Dichtung. Kritische Beiträge zur Geschichte der zeitgenössischen deutschen Literatur. Leipzig 1889, S. 78. Auch Karl Bleibtreu nennt Kretzer in seiner 1886 herausgegebenen „Revolution der Literatur" den „Bahnbrecher" /S. 37/ des „Berliner Romans".
4 Julius Stinde: „Familie Buchholz" /1884—86/, „Frau Wilhelmine" /1886/, „Wilhelmine Buchholz' Memoiren" /1895/ u. a.
5 Paul Lindau: „Der Zug nach dem Westen" /1886/, „Arme Mädchen" /1887/, „Spitzen" /1888/.
6 Fritz Mauthner: „Quartett" /1886/, „Die Fanfare" /1888/. „Der Villenhof" /1890/.
7 Theodor Fontane an Paul Lindau /3. November 1886/. Zitiert nach: L'Adul- tera — Wirkung. In: Theodor Fontane. Romane und Erzählungen in acht Bänden. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1969, Bd. 3, S. 564.
8 Vgl. Louis Wirth: Urbanism as a Way of Life. In: American Journal of So- ciology, 1938, vol. XLIV.
Gunhild Kubier, Küsnacht
Theodor Fontanes „Mathilde Möhring"
Ein Beispiel frauenperspektivischer Literaturbetrachtung *
In den letzten fünfzehn Jahren hat sich unter dem Einfluß der Frauenbewegung das Lesebedürfnis vieler Frauen gewandelt. Sie sind unzufrieden geworden mit dem in der Literatur entwickelten weiblichen Rollen-Repertoire und haben angefangen, Vergleiche anzustellen zwischen dem, was sie über sich selbst wissen, und dem, was sie in der Literatur über sich erfahren. Dabei wurden sie das unbehagliche Gefühl nicht los, in der Literatur — vom Klassiker bis zum Schullesebuch — nur selten vorzukommen. In diesem Figurenpanoptikum dominierten selbstlose Mütter, Madonnen und dämonische Verführerinnen, männliche Wunsch- und Angstprojektionen, in denen sich die Leserinnen nicht wiedererkannten. Dafür festigte sich der Verdacht, daß zwischen den Rollen, die Frauen in der Literatur zugeschrieben werden, und denen, die ihnen im Leben zugewiesen werden, interessante Zusammenhänge bestehen.
Hand in Hand mit diesem Wandel des Lesebedürfnisses entwickelte sich die neue Frauenliteratur, in der Frauen von sich selbst reden und ihre Perspektive thematisieren und eine frauenperspektivische Literaturbetrachtung, eine feministische Literaturkritik, deren Aktivitäten sich am besten als „Ausgrabungsarbeiten" umschreiben lassen. „Ausgraben" ist hier in einem doppelten Sinn zu verstehen : Zum einen geht es darum, die Linien einer verschütteten Tradition weiblicher Literatur freizulegen — hierher gehört das neu erwachte Interesse an den Frauen der deutschen Romantik. Zum andern geht es um die Wiederbegegnung
* Nachdruck aus der Neuen Zürcher Zeitung, Nr. 19 v. 25.1.1985 mit freundlicher Genehmigung des Verlages u. der Autorin
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