Heft 
(1989) 48
Seite
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mit dem literarischen Erbe. Feministische Literaturkritik ist damit eine Möglich­keit, aus neuer Sicht die Klassiker zu befragen. Die Gefahr ahistorischer Verzer­rung ist dabei nicht unausweichlich.

Durch Einbettung der Texte in ihr literaturhistorisches Umfeld und mit Bezug auf ihren soziokulturellen Rahmen kann ihrer Geschichtlichkeit Rechnung ge­tragen werden.

Theodor Fontanes nachgelassener RomanMathilde Möhring" bietet sich als Bei­spiel einer solchen Wiederbegegnung an. Schon die Textgeschichte des schmalen Werks zeugt von erstaunlich hartnäckigen Überlagerungen und Entstellungen. Fontane war 72, als er im Jahr 1891 mit einer ersten Niederschrift des Romans begann. Sein dreizehnter Roman,Frau Jenny Treibel", war gerade erschienen, auch der erste Entwurf derEffi Briest" lag schon vor. Da führten Krankheit und anhaltende Depression den 72jährigen in eine schwere Krise, aus der er sich nur langsam erholte. Intensive Korrekturarbeiten an seinerEffi" und am Roman Der Stechlin" kamen dazwischen. 1896 hat FontaneMathilde Möhring' noch einmal vorgenommen, daran gefeilt und gebessert und schließlich seine Kommen­tare und Korrekturideen auf Notizzetteln angeheftet.

Bei seinem Tod zwei Jahre später lag darum ein zwar wohlgeordnetes, aber mühsam lesbares Manuskript in seinem Nachlaß, das erst acht Jahre später durch einen vielbeschäftigten Journalisten herausgegeben wurde. Der ließ dem Text eineleichte Nachbesserung" angedeihen, d. h. er strich vor allem die sozial­kritischen Stellen heraus, von denen er annahm, daß sie einem wilhelminischen Lesepublikum nicht angenehm sein könnten. Es hat 63 Jahre gedauert, bis Fon­tanes eigenes Manuskript wieder ausgegraben und von Gotthard Erler in Weimar herausgegeben wurde. Das ist der Grund, weswegenMathilde Möhring" in den älteren Sammelausgaben von Fontanes Werken oft nicht enthalten und daher vielerorts unbekannt geblieben ist.

Mathilde Möhring" so heißt eine energische junge Frau aus dem Kleinbürger­tum des ausgehenden Jahrhunderts.Unsympathisch" sei diese Heldin, meinen fast übereinstimmend die Interpreten; schon Fontane habe darum keine rechte Lust gehabt, den Roman fertig zu schreiben. - Das reizt dazu, nachzulesen wie Fontane seine Titelfigur einführt:

Mathilde hielt auf sich ... sie war sauber, gut gekleidet und von ener­gischem Ausdruck, aber ganz ohne Reiz. Mitunter war es, als ob sie das selber wisse, und dann kam ihr ein gewisses Mißtrauen, nicht in ihre Klugheit und Vortrefflichkeit, aber in ihren Charme, und sie hätte dies Gefühl vielleicht großgezogen, wenn sie sich nicht in solchen kritischen Momenten eines unvergeßlichen Vorgangs entsonnen hätte. Das war in Halensee gewesen an ihrem siebzehnten Geburtstag, den man mit einer unverheirateten Tante gefeiert hatte. Sie hatte sich in einiger Entfernung von der Kegelbahn aufgestellt und sah immer das Bahnbrett hinunter ... da hörte sie ganz deutlich, daß einer der Kegelspieler sagte:Sie hat ein Gemmengesicht". Von diesem Worte lebte sie seitdem. Wenn sie sich vor den alten Stehspiegel stellte, dessen Mittellinie ihr grad über die Brust lief, stellte sie sich zuletzt immer en profil und fand dann das Wort des Halenseer Kegelschützen bestätigt. Und durfte es auch; sie hatte wirklich ein Gemmengesicht, und auf ihre Photographie hin hätte sich jeder in sie verlieben können, aber mit dem edlen Profil schloß es auch ab, die dünnen

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