Lippen, das spärlich angeklebte, aschgraue Haar, das zu klein gebliebene Ohr, daran allerhand zu fehlen schien, alles nahm dem Ganzen jeden sinnlichen Zauber, und- am nüchternsten wirkten die wasserblauen Augen. Sie hatten einen Glanz, aber einen ganz prosaischen, und wenn man früher von einem Silberblick sprach, so konnte man hier von einem Blechblick sprechen."
Eine solche Einführung ist nicht dazu angetan, den ästhetischen Sinn der Leserinnen und Leser zu beflügeln. Nicht nur im zeitgenössischen Roman, auch im Werk Fontanes wird man selten eine so unattraktive Heldin finden. Herkömmlicherweise sind Frauen im Roman wenigstens nett anzusehen, allenfalls blaß und leidend, aber nie reizlos. Ganz offensichtlich hat Fontane hier für seine Heldin diese traditionelle weibliche Rolle nicht mehr vorgesehen.
Aber auch der männliche Held des Romans erfüllt nicht mehr die üblichen Rollenerwartungen : Hugo Grossmann ist ein verbummelter Student, bequem, weich, arbeitsunlustig. Auf den ersten Blick sieht er zwar männlich aus, mit schwarzem Vollbart und breiten Schultern, aber es fehlen ihm doch alle Attribute wilhelminischer Männlichkeit. Das scheint auch heute noch manche Interpreten ebenso zu schockieren wie Mathildes fehlende Reize: „Dieser antrieblos schwächliche Student ist eine der bedrückendsten Figuren, die Fontane gezeichnet hat" (Hermann Lübbe, 1973). Ein solches Urteil über den armen Hugo zeigt, wie heftig ein Verstoß gegen das männliche Rollenbild in der Literatur noch immer empfunden wird.
Noch strenger sind die Interpreten allerdings mit Mathilde selber ins Gericht gegangen. Die abschätzigen Urteile gründen sich nicht allein auf den fehlenden äußeren Reiz dieser Figur, sondern auch auf ihre wiederholten Verstöße gegen den als „weiblich" definierten Verhaltenskodex. Sie plant nämlich ihren sozialen Aufstieg, diese reizlose junge Frau und angelt sich zu diesem Zweck im ersten Teil des Romans einen Mann mit Aussicht auf Karriere. Ihre Wahl fällt — faute de mieux — auf ihren Untermieter Hugo Grossmann, doch ist der alles andere als ein Karrierist; er liest lieber Romane und geht spazieren, als sich auf sein juristisches Staatsexamen vorzubereiten. Schließlich bekommt er gar eine Kinderkrankheit, die Masern. Da nutzt Mathilde ihre Chance und demonstriert als Pflegerin an seinem Krankenbett ihre energische Lebenstüchtigkeit in einer Weise, die Hugo zu der Einsicht bringt:
„Es ist ein merkwürdiges Mädchen . .., nicht eigentlich schön, wenn man sie nicht zufällig im Profil sieht, aber klug und tapfer, ich möchte sagen, ein echtes deutsches Mädchen, charaktervoll, ein Wesen, das jeden glücklich machen muß, und von einer großen Innerlichkeit, geistig und moralisch. Ein Juwel."
Sie verloben sich. Mathilde macht ihr Jawort jedoch von Hugos Versprechen abhängig, sein Examen nicht länger hinauszuschieben. Freundlich, aber unerbittlich geht sie daran, Hugo zu trainieren. Ihr pädagogisches Verfahren, bei dem Repetitionsprogramme geschickt mit Erholungspausen wechseln, ist eine Quelle des Lesevergnügens, aber auch des Behagens für Hugo selber, der ihre Methode durchschaut und ganz froh ist, auf diese Weise „dirigiert" zu werden.
Nach bestandenem Examen verschaffen ihm Mathildes zielgerichtete Aktivitäten den Posten eines Bürgermeisters in einer westpreußischen Kleinstadt. Sein freundlich-ruhiges Wesen macht Hugo in seinem neuen Wirkungskreis beliebt, während
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