Heft 
(1989) 48
Seite
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Mathilde ihre lokalpolitischen Ideen zur Vermehrung seines Ansehens einsetzt. Da wird sie plötzlich aus dieser Beschäftigung mit dem Ausbau ihrer sozialen Situation herausgerissen: Hugo stirbt. Er hat sich bei einer Schlittenfahrt eine tödliche Lungenentzündung zugezogen. Mathilde löst ihren Haushalt auf und kehrt zu ihrer Mutter nach Berlin zurück. So weit der erste Teil des Romans.

Die Handlung erinnert von fern an ein traditionelles Muster, das im Roman zu allen Zeiten beliebt gewesen ist: Das Aschenputtelschema derHinaufheirat" eines einfachen Mädchens. Allerdings gehören zur Aschenputtelrolle Sanftmut und Bescheidenheit, es wird selbst nicht aktiv, ganz im Gegensatz zu seinen bösen, weil sozial ehrgeizigen Schwestern.

Mathilde soviel ist klar gehört nicht zu den Sanft- und Demütigen, die ihre Lage widerspruchslos akzeptieren. Sie plant ihren Aufstieg selber und setzt ihn ins Werk, ein aktiver Frauentyp, der in Fontanes Romanwelt gar nicht so selten ist man denke an die aufstiegslustige Corinna oder Jenny Treibel aus dem gleichnamigen Roman. Ja sogar bei einer so kindlichen Figur wie der reizenden Effi ist der gesellschaftliche Ehrgeiz durchaus auch ein Motiv der Ehe mit Inn- stetten.

Gründe für das Auftreten derartig aufstiegsorientierter Frauenfiguren bei Fon­tane lassen sich mehrere anführen: Zunächst hatten sich mit der Reichsgründung 1871 die Aufstiegsmöglichkeiten außerordentlich vermehrt. Fontane, dessen Inter­esse seit langem weiblichen Schicksalen und Aktionen galt, hatte überdies ein scharfes Auge für die zeitgenössische Karrierestreberei, an der sich auch die Ehefrauen beteiligten. Er hielt sie für eine Zeitkrankheit und diagnostizierte seufzend ihre Symptome an seiner eigenen Frau Emilie.

Eingesetzt ins hergebrachte Aschenputtelmuster, lösten diese aktiven Frauen­figuren schon bei den zeitgenössischen KritikernBeklemmungen" aus. Denn sie steuerten Verlobung und Hochzeit mit strategischem Weitblick als Stationen auf einer vorausberechneten Aufstiegsbahn an, statt sich wie es dem weiblichen Tugendkatalog entsprach von ihrem Gefühl leiten zu lassen. Bei einer Aktion wie der Mathildes, so klagt noch ein heutiger Interpret, bleibedie Herzensbil­dung hoffnungslos auf der Strecke" (Walter Müller-Seidel 1975).

Dabei hat Fontane Mathildes Verhalten aus ihrer sozialen Lage genau motiviert. Nirgends im Werk Fontanes ist das Schäbige und Kümmerliche kleinbürgerlicher Lebensumstände ähnlich präzis und anschaulich festgehalten. Dazu gehört die ins Einzelne gehende Schilderung der Ernährungsgewohnheiten der Buchhalter­witwe und ihrer Tochter, zu deren kulinarischen Hochgenüssen der Neuaufguß des bereits gebrauchten Teekrauts ihres Untermieters gehört. Auf dieser untersten Stufe der sozialen Leiter kann sich keiner mehr diePflege von Gefühlen" leisten. Energie, Ideenreichtum, taktisches Geschick, Menschenkenntnis das sind die Qualitäten, die Mathilde unter dem Druck dieser Verhältnisse entwickelt hat. Sie sind buchstäblich notwendige Reaktionsformen auf das soziale Milieu und hätten beiläufig bemerkt jedem männlichen Protagonisten zur Ehre gereicht.

Hugos Tod beendete Mathildes Karriere abrupt. Konfrontiert mit der Armseligkeit ihrer alten Berliner Wohnung, plant Mathilde nun eine zweite Aktion: Sie unter­nimmt einen weiteren Aufstiegsversuch, investiert aber dieses Mal ihre Energie in die eigene Ausbildung. Ausdrücklich lehnt sie es ab, sich wieder zu verheiraten, obwohl ihre Mutter sie gerne auf diese Weise versorgt sähe. Sie entschließt sich, Lehrerin zu werden. Ihr Examen besteht sieviel glänzender als damals Hugo das

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