Heft 
(1989) 48
Seite
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von denen es jedoch viel zu wenig gab. 101 Lehrerseminaren standen in Preußen ganze fünf Lehrerinnenseminare gegenüber. Lehrerinnen verdienten weniger als die Hälfte des Gehalts ihrer männlichen Kollegen, sie mußten sich peinliche Überwachungen ihres Lebenswandels durch die Rektoren gefallen lassen und wurden, sobald sie sich verheirateten, auch wenn sie Beamtinnen waren, sofort entlassen. Der Kampf der Frauenbewegung um die Öffnung der Universitäten hatte erst 1908 Erfolg. Vorher gab es nur für die Privilegierten unter den Frauen die Möglichkeit zu studieren: sie zogen wie etwa Ricarda Huch an die Universität Zürich, wo Frauen seit 1864 sogar Medizin studieren durften.

Fontane, der seine Heldin einen Beruf ergreifen läßt, gehört zu den ganz wenigen Autoren, die eine solche Figur überhaupt präsentierten. Denn die Figur der berufstätigen Frau, ganz besonders der Lehrerin, hat Seltenheitswert in der deut­schen Literatur. Lehrerinnen kommen nicht einmal im frauenrechtlerischen Ten­denzroman der Zeit, etwa bei Helene Böhlau oder Minna Kautsky, vor. Die Phantasie dieser Autorinnen scheint sich leichter an glanzvollen Auftritten von Künstlerinnen zu entzünden als an der ungleich prosaischeren Emanzipation einer Frau zur Lehrerin. Hier zeigt sich, daß die weibliche Verfasserschaft allein noch keinen authentischen Text zur Situation der Frauen garantiert.

Um so wichtiger erscheint daMathilde Möhring" als einer der wenigen deutschen Beiträge zu der gleichzeitig so hitzig geführten Diskussion um die weibliche Berufstätigkeit! Fontane hat an dem, was um ihn herum vorging, lebhaft Anteil genommen und ein sehr scharfes Auge für das Verhalten seiner Zeitgenossen gehabt. Sein seismographisches Gefühl für die sich ankündigenden Veränderungen reagierte präzis auf das Ins-Wanken-Geraten von Traditionen, auch auf den Wandel in der Selbsteinschätzung der Geschlechter. Das gerade machtMathilde Möhring" heute so interessant.

Zugleich hat diese Wiederbegegnung deutlich gemacht, wie voreilig Befürchtungen sind vor einer feministischenAbrechnung" mit dem literarischen Erbe. Die Furcht, daß allzu genaues Hinhören auf das, was hier über das Rollenspiel der Geschlechter gesagt wird, den Autor selber herabsetzen könnte, ist oft unbegrün­det. Das Gegenteil ist ebenso wahrscheinlich. Wenn frauenperspektivische Lite- raturkritik sich die bereits vorhandenen Untersuchungsmethoden zunutze macht und in ihrem Sinn einsetzt, wird sich erweisen, daß viele Texte dieseRevision" nicht nur aushalten, sondern daß sich auf diese Art der Reichtum ihrer Aktualität und Humanität neu erschließen läßt.

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