SCHRIFTSTELLER DER GEGENWART ÜBER THEODOR FONTANE
Wir setzen hiermit die im Heft 47 begonnene Betrachtung heute lebender Schriftsteller über ihre Beziehungen zu Theodor Fontane fort und danken an dieser Stelle Brigitte Birnbaum, Heinz Knobloch und Dr. Volker Ebersbach für ihre freundlichen Zuschriften zu unserer Umfrage.
Brigitte Birnbaum, Schwerin
Fontanes Briefe*
Der eine wandert mit ihm durch die Mark Brandenburg. Der andere erinnert sich gern oder ungern — weil er ihn als Schüler auswendig lernen mußte — an John Maynard. Ein dritter bedauert Effi Briest, seine wohl berühmteste Romanfigur. Mir imponiert der Briefschreiber Theodor Fontane. Vielleicht, weil ich selbst nicht begeistert Briefe schreibe. Gewiß aber, weil seine Briefe eine eigene, hochinteressante Form von Literatur sind. Nicht jeder gleichermaßen, doch die meisten der 273, die ich bisher von ihnen las, adressiert an die Braut, die Frau, Tochter und Söhne, die Schwester, Freunde, Kollegen, adlige Damen, Vorgesetzte, Redakteure, Verleger. Und alle zusammen offenbaren mehr, als es jede Autobiographie vermag, weil sie nie zur Veröffentlichung gedacht waren.
Thomas Mann behauptet zwar, Fontanes „Leben ist in den Briefen beiläufig skizziert“. Für mich nicht. Für mich sind sie in erster Linie Selbstdarstellungen, enthüllen sie mir seine persönliche Entwicklung mit allen Widersprüchen und ihren Grenzen, ohne Beschönigung. Sind sie erschütternde Zeugnisse, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse Fontane bis zum politischen Verrat trieben. Wie bitter zu lesen, was er 1851 seinem Freund Bernhard von Lepel berichtet: „Ich hab mich heute der Reaktion monatlich für 30 Silberlinge verkauft. Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen."
Die meister seiner Briefe verfaßte er in Berlin, anfangs in möblierten Zimmern hausend, den Chambre garnies, die alle einander glichen. „Die knarrende Bettstelle, die mitleidsvoll aus den Fugen geht, um einer obdachlosen Wanzenfamilie ein Unterkommen zu bieten, der wankelmütige Nachttisch, das gevierteilte Handtuch, die stereotypen Schildereien: Kaiser Nikolaus und Christus am Kreuz, alles ist wieder da. Mir Auge und Ohr zu erquicken. Oh, wie schön!"
Die Wohnung, eine Mansarde in der Prosdamer Straße 134c, in die er für die letzten 26 Jahre seines Lebens „einrückte", wird ihm auch kaum den verdienten Komfort gewährt haben. Aber er mußte zufrieden sein, mußte dort hinziehen, weil der Hauswirt in der Louisenstraße die Miete erhöhte, und diese wurde für Fontane und seine fünfköpfige Familie unbezahlbar. Er war ja nicht der wohlhabende Herr Apotheker, für den er bisweilen noch heute bei manchem Leser gilt. Auch ich erfuhr erst aus diesen zwei Briefbänden, daß er nach kurzem pharmazeutischem Wirken unter verschiedenen Chefs sein Leben als schlechtbezahlter Journalist und Theaterkritiker fristete, in einem Berlin, das nach seinen Aussagen „weit ab von
* Nachdruck mit verändertem Titel aus der Schweriner Volkszeitung vom 20. 2. 1987 mit freundlicher Genehmigung der Autorin
102