26 Fontane Blätter 113 Unveröffentlichtes und wenig Bekanntes und unverfälscht genauso anwendet, wie sie von unseren Romanschriftstellern in den zehn Jahren seit Zola konzipiert worden sind. Dennoch würde ich sie unseren jungen Naturalisten nicht empfehlen. Gerade weil bei Fontane alle Regeln des naturalistischen Romans erfüllt werden, sind sie komplett anders als die französischen Romane, ja diesen sogar genau entgegengesetzt. Die Themen sind die gleichen, die Verfahren sind die gleichen, und dennoch sind Fontanes realistische Romane von den Erzählungen unserer Realisten weiter entfernt als die idyllischsten Werke von Monsieur Theuriet oder Madame Caro. 26 Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Irrungen, Wirrungen und den Soeurs Vatard. 27 Durch ein einzigartiges Phänomen erinnern Fontanes Werke, die so rigoros nach den Regeln der naturalistischen Schule konzipiert sind, an Dickens , den wohl phantasievollsten aller Romanschriftsteller. Im Übrigen ist die Sache vielleicht gar nicht so seltsam. Der naturalistische Roman ist ein Ausschnitt aus dem Leben von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtet. Dieser besondere Standpunkt macht den Kern der naturalistischen Theorie aus und darin besteht ihr philosophisches Prinzip. Denn die Literatur kann nicht umhin, immer eine Kunst des Raisonnements zu sein und sich auf eine Weltanschauung zu stützen. Auch wenn die Romanschriftsteller versuchen können, sich jeder Metaphysik zu entziehen, müssen sie doch immer an die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Außenwelt glauben, an die Schönheit oder Hässlichkeit der Natur. Und ihr Glaube wird schon auf den ersten Seiten, die sie schreiben, zum Ausdruck kommen. Je nachdem welcher Philosophie sie unbewusst folgen, werden sie dieses oder jenes Licht auf ihre Darstellungen projizieren, das diese entweder traurig oder fröhlich, angenehm oder unangenehm wirken lassen wird. Vergeblich werden sie sich darum bemühen, jedes Urteil oder jede Beurteilung zu vermeiden. Selbst auf ihre unpersönlichste Form reduziert, wird ihre Weltvorstellung doch immer von ihrer Liebe oder ihrem Abscheu geprägt, die sie für die Welt empfinden. Nun aber lässt sich nicht leugnen, dass alle französischen Naturalisten die heutigen Sitten mit der strengen und gehässigen Philosophie von unzufriedenen Utopisten betrachten. Alle haben nachdrücklich an die Wirklichkeit der Welt geglaubt, die sie studierten. Und da sie dachten, dass der Mensch ein edles Wesen sei, mit der Intelligenz als schönstem Attribut, haben sie die Niedertracht, Erbärmlichkeit und Dummheit, die sie um sich herum beobachteten, als eine ärgerliche Erniedrigung empfunden. Dies ist die Ursache für jenen beklagenswerten, düsteren und regnerischen Tag, an dem die Figuren ihrer Romane auftauchen. Sie haben im Voraus eine so hohe Meinung vom Leben, dass das Elend, das sie sehen, sie ständig empört. Ganz das Gegenteil zeigt sich bei Dickens oder Fontane . Sie erwarten wenig vom Leben und von den Menschen. Um sich für ihre Figur zu inter -
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(2022) 113
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