Heft 
(2022) 113
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Fontane und das Boulevardtheater  Parr 69 als historisch festgelegte und damit extrinsisch motivierte wie zumeist im realistischen Roman. Sie sind vielfach insofern eher intrinsischer Art, als dass sie als Prüfsteine für den eigentlichen Charakter der Figuren fungie­ren, der durch die Verstellungs- und Verkennungsdynamiken nur temporär überlagert wird. Dadurch jedoch, dass sie vorkommen, ist eine Schnittstel­le zum realistischen Schreiben gegeben. Am Ende von Wicherts Boulevardstücken stehen häufig Zukunftsaus­sichten, wie sie der poetische Realismus in dieser Deutlichkeit kaum kennt, und manchmal sogar so etwas wie Visionen, etwa in Ernst Wicherts Lust­spiel Die Realisten diejenige einer emphatischen Assoziation aller Figuren mit Bismarcks Reichsgründung 20 und in Ein Schritt vom Wege die in die Zukunft weisende Verlobung von Kurt und Bertha. 21 Der poetische Realis­mus entwickelt Gegenwart demgegenüber anders als Wicherts Stücke eher aus Rückblicken in die Vergangenheit. Symptomatisch dafür ist bereits der erste Satz in Effi Briest (»In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie Briest bewohnten Herrenhauses fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße[].« 22 ) und ebenso die Verlängerung der familiären Beziehung der Briests zu Innstetten zurück in die Generation der Mutter. Man könnte nun einwenden, dass doch auch bei Fontane , etwa in Frau Jenny Treibel und auch im Stechlin 23 Verlobungen stattfinden, doch eben nicht ganz am Ende des Romans und nicht in der Funktion einer Zukunftspers­pektive, sondern bei Fontane (fast) immer auch als eine Form von Entsa­gung. So steht die Verlobung von Corinna Schmidt in Frau Jenny Treibel mit ihrem Cousin Marcell Wedderkopp im Schatten des Verzichts auf die Heirat mit Leopold Treibel; die Verlobung und dann Heirat von Woldemar und Armgard im Stechlin werden zum einen überlagert durch den Tod des alten Dubslav von Stechlin und sind zum anderen nicht so angelegt, dass daraus weiterreichende Zukunftsperspektiven entwickelt werden könnten. IV. Deutlich wird bereits an diesen wenigen Beispielen, dass die Boulevardstü­cke Wicherts geeignet sind, für den realistischen Roman solche Themen und Strukturen zugänglich zu machen, über die er selbst nicht so ohne weiteres verfügen kann, da diese der Tendenz nach außerhalb seiner Poetik liegen. Ein ›Import‹ ist aber auch nur dann denkbar, wenn die eigene Poetik da­durch nicht infrage gestellt wird. Wenn Fontane 1872 über Wicherts Lust­spiel Ein Schritt vom Wege schreibt, es greife ein»altes Thema, aber gefällig variiert« 24 auf, dann könnte das auch für seinen Roman Effi Briest gelten. Bei partiell ähnlichem Plot müsste Effi Briest dann nach Fontanes eigenen Krite­rien die künstlerische Vertiefung des in Wicherts Stück bloß Abgebildeten sein. 25 Wie wichtig es für Fontane ist, diese Differenz zwischen seinem eige­nen, als Kunst verstandenen Schreiben auf der einen und den auf Unterhal-