Heft 
(2022) 113
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Fontane und Gabriele Tergit  Sill 105 zwischenzeitlich ganz und gar entgegengesetzte Ziele. Von der Vorstellung einer romantischen Winkelidylle erfüllt, beschließt er im Jahre 1889, seine Geliebte Wanda Pybschewska, ein»Straßenmädchen« 11 , zu heiraten, nach­dem diese schwanger geworden ist. Doch seine beiden Unterredungen, zu­nächst mit seinem Vater, dann mit seinem liberalen Onkel Waldemar, von dem er sich Zuspruch und Unterstützung erhofft hatte, verlaufen enttäu­schend. Theodor wird bald darauf auf Reisen geschickt, Wanda dagegen mit »dreitausend Mark« 12 abgefunden. Und damit ist die Gefahr einer rufschädi­genden Verbindung erfolgreich abgewendet. Alles in allem: Die 1880er-Jah­re sind gute Jahre für das Bankhaus Goldschmidt& Oppner. Es bedarf nicht einmal genauerer Textkenntnisse, um zu erkennen, wel­che Romane Theodor Fontanes allein schon durch diesen Handlungsverlauf als Bezugstexte in Frage kommen. Es handelt sich um Irrungen, Wirrungen (1888) und Stine (1890). Dabei ist es nicht nur die aus einzelnen Episoden sich zusammensetzende Handlung, die unschwer Parallelen zum jeweiligen Geschehen der beiden Fontane -Romane erkennen lässt, auch die Figuren­konstellation findet ihre jeweilige Entsprechung. So erlebt das Beziehungs­dreieck Lene Nimptsch Botho von Rienäcker Käthe von Sellenthin eine Neuauflage im Dreieck Käte Winkel Karl Effinger Annette Oppner. Und die so enttäuschend verlaufenden Unterredungen Waldemar von Halderns mit seinem alten Onkel, den Baron von Osten, wiederholen sich im ergeb­nislosen Bemühen Theodor Oppners, zunächst bei seinem Vater, dann bei Onkel Waldemar Unterstützung zu erfahren für seinen Plan, Wanda zu hei­raten. Angesichts solch deutlicher Parallelen verwundert es nicht, dass auch die Charaktere, wie Tergits Roman sie zeichnet, in vielerlei Hinsicht an Theodor Fontanes Figuren erinnern. Und schließlich sind es nicht nur Ir­rungen, Wirrungen und Stine , sondern auch andere Zeitromane Fontanes, die in einer Reihe von Motiven angespielt werden, solange es in Gabriele Tergits Familienchronik um die Darstellung des späten 19. Jahrhunderts geht. All das soll nun im Weiteren gezeigt werden, wobei allerdings auch hier gilt, was im Horizont intertextueller Bezüge stets zu berücksichtigen ist: Nicht die Parallele ist primär von Interesse, sondern der Unterschied im Ähnlichen. Beginnen wir mit Irrungen, Wirrungen als Bezugstext. An einem schönen Frühlingstag im März 1887,»mittags um ein Uhr« 13 , beschließen Waldemar Goldschmidt und seine Geliebte Susanna Wider­klee,»zusammen bei Hiller[zu] frühstücken« 14 . Nun heißt es:»Es war fast kein Platz zu bekommen. Offiziere saßen da, schöne Frauen, ein paar Guts­besitzer, Junker aus der Provinz.« 15 Lässt man die zeitliche Verschiebung einmal außer Acht(denn Irrungen, Wirrungen spielt Mitte der 1870er-Jah­re), dann könnte es sich an einem der Nebentische um Wedell und Rienäcker handeln, der eben aus der Kaserne gekommen ist und natürlich um Bothos alten Onkel, den Baron von Osten,»Gutsbesitzer« und»Junker aus der Pro­vinz«. Auch die Uhrzeit stimmt. Denn in seinem Brief hatte der alte Onkel