Heft 
(2022) 113
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110 Fontane Blätter 113 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Gesellschaft bleibt nicht aus. Von ihrer Ausstrahlung bezaubert, kommen­tiert ein Gast:»Und dann macht sie so feine Bemerkungen. Wie sie heute mittag von dem ›Zigeunerbaron‹ sagte, daß die Musik von ganz besonde­rem Reiz der Behandlung wäre, so fein bemerkt.« Karl Effinger ist nicht der Mann, diese Formen weiblicher Selbstinszenierung zu durchschauen. An­ders dagegen Annettes Bruder und ihr Onkel:»Waldemar und Theodor wechselten einen Blick.« 61 Annette, die verwöhnte, doch unerfahrene Tochter aus privilegierten Verhältnissen, stolpert letztlich in die Ehe wie einst Effi Briest . 62 Die oft zi­tierte Passage, in der Effi ihrer Mutter auf die Frage antwortet, ob sie Inn­ stetten denn liebe 63 , wird in Tergits Roman nur leicht abgewandelt.»Du liebst ihn doch« fragt hier die»treue Seele« Fräulein Kelchner. Und Annette antwortet:»Aber natürlich.« 64 Allerdings ist Annette keineswegs wie Effi das Opfer manipulativer Strategien ihrer Mutter. Sie will Karl Effinger heiraten, nicht weil sie ihn liebt, sondern weil sie durch diese Entscheidung im Mittelpunkt aufregender Ereignisse steht und sich an der Seite eines aufstrebenden Industriellen eine Zukunft voller Glanz und Luxus erträumt. In diesem Punkt ist sie durchaus wieder vergleichbar mit der verwöhnten Tochter des Ritterschaftsrats Briest. Über Effi auf Einkaufstour vor der Hochzeit heißt es:»Nur das Eleganteste gefiel ihr, und wenn sie das Beste nicht haben konnte, so verzichtete sie auf das Zweitbeste, weil ihr dies Zwei­te nun nichts mehr bedeutete.« 65 Nicht anders Annette:»Sie wußte, was sie wollte. Das Brautkleid und mindestens die Dinertoilette von Gerson und das Reisekleid und das Bergsteigerkostüm von einer Sportfirma.« 66 Es sind diese partiellen Überschneidungen, hier mit Käthe von Sellenthin, dort mit Effi Briest , die Fontanes Romane als Vorlagen aufrufen, ohne dass Gabriele Tergits Figuren ihre auch sozial geformte Eigenständigkeit und Glaub­würdigkeit verlieren würden. Im Beziehungsdreieck Käte Winkel Karl ­Effinger Annette Oppner gilt dies insbesondere für Karl, den aus einem Provinzstädtchen stammenden Sohn eines Uhrmachers. Baron Botho von Rienäcker, der sich in allen Lebenslagen»mit der ihm eigenen chevaleresken Artigkeit« 67 zu bewegen weiß, ist durch und durch Kind seines Standes, das die für männliche Angehörige des Adels üblichen Erziehungs- und Bildungsgänge durchlaufen hat. In einer verbitterten Stunde führt sich Botho vor Augen, was er darüber hinaus gelernt hat:»Ich kann ein Pferd stallmeistern, einen Kapaun tranchiren und ein jeu machen.« Das aber genügt, um für die vermögenden Sellenthins der erhoffte Schwie­gersohn zu sein, denn wie sie selbst gehört eben auch Botho von Geburt an zur»sogenannten Obersphäre der Gesellschaft« 68 . Bothos Herkunft ist eine verlässliche Ressource, die in allen Lebensla­gen Sicherheit verleiht; Karl Effingers Herkunft ist dagegen ein Makel, den es zu kompensieren gilt. Dabei hilft ihm sein gefälliges Aussehen. Kein Zweifel, befindet auch sein Bruder Paul, Karl war jemand,»der gut aussah,