46 Fontane Blätter 114 Dossier: Fontanes Fragmente Strategie des ›angehaltenen Moments‹ und der narrativperspektivischen Entfaltung Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen dazu ausführen, wie Fontanes fragmentarische Textbausteine in ihrer Bild- und Skizzenhaftigkeit daraufhin angelegt sind, ›dekomprimiert‹ und zu Mitteln der narrativen Gestaltung und leserseitigen Involvierung zu werden. Dabei will ich auf ein Konzept zurückgreifen, das Joachim Paech im Zuge seiner Überlegungen zum Phänomen ›filmischen‹ Schreibens bzw. Erzählens vor der eigentlichen Entstehung des Mediums Film skizziert hat. Paech spricht in seinem bereits etwas älteren, aber grundlegenden Beitrag von einem für den poetischen Realismus des neunzehnten Jahrhunderts charakteristisch erscheinenden »Verfahren des ›angehaltenen Moments‹«, der»zum gerahmten Tableau ausgeweitet wird, um in Rundblicken, Detailbeschreibungen, Intensivierungen an Ort und Stelle ausgestaltet zu werden, oder dessen Beschreibung dynamisierter Wahrnehmung zur Intensivierung des Erzählens selbst führt«. 17 Aus einer literar-ästhetischen Perspektive könnte man hier statt von einem ›angehaltenen Moment‹ vielleicht stimmiger auch von einem ›noch nicht in Bewegung gesetzten Moment‹ sprechen. 18 In jedem Fall jedoch lässt sich das von Paech beschriebene Zusammenspiel aus dem Fokussieren und dem perspektivischen Entfalten einer Szenerie auch als Strategie der narrativen Aufmerksamkeitslenkung fassen, die eine dynamische Involvierung der Leser*in als beobachtende und(mit-)erlebende Instanz zum Ziel hat. 19 In diesem Sinne bietet Paechs Konzept des ›angehaltenen Moments‹ einen guten Ausgangspunkt, um den Konnex von Fontanes Strategien des Sammelns und ›Formatierens‹ von Stoffen im»Arsenal der Möglichkeiten« zu seinen rezeptionsästhetischen Strategien der textuell-narrativen Ausgestaltung in den Blick zu nehmen. Ein paar analytische Schlaglichter sollen dies im Folgenden veranschaulichen. Gemäß ihres wichtigsten thematischen Bezugspunktes(vgl. F I, XXXVI) beginnen die unter Impressionen und Essays gesammelten Fragmente mit dem kurzen Text Berlin 19. Februar. Ein Blick von der Alsen -Brücke(F I, 401). Die für das Fragment im Sinne seines Materialcharakters im»Arsenal der Möglichkeiten« entscheidende Stelle einer angedeuteten narrativ-perspektivischen Ausfaltung findet sich am Schluss des Textes. Hier lässt sich, mit Matthias Grüne gesprochen, ein Umschlagsmoment von Autor- in Erzählertext beobachten, eine Art Sprungbrett für die weitere Verwendung und Ausarbeitung des Textentwurfs, das dessen Entfaltung in eine narrative Szenerie und Diegese ermöglicht. 20 Werfen wir einen Blick auf den Text: Fontane bzw. die Sprecherinstanz vergleicht zunächst das gegenwärtige Berlin mit dem um 1800, das Wil helm von Humboldt folgendermaßen zusammengefasst habe:»O, dies Ber lin ! Eine furchtbarere Stadt ist nicht denkbar. Es ist nichts drin zu sehn und
Heft
(2022) 114
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