Heft 
(2022) 114
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66 Fontane Blätter 114 Dossier: Fontanes Fragmente bendig hält. Diese feinen Bewegungen des Gesprächs, die zur Abschattung der Figuren ­bedeutend beitragen, lassen sich nicht so einfach in die Form des Brieferzählens übertragen. Ein Blick auf das Fragment Ehen werden im Himmel geschlossen kann dies verdeutlichen. Fontane entwirft die Charak­terskizze von Charlotte von Wnuck, einer der beiden Protagonistinnen, zeichnet ihr ideologisches Profil und lässt dazu auch die Figur selbst spre­chen. Im Gegensatz zu der eben analysierten Szene entwickelt sich aus die­ser Figurenrede jedoch keine Erzählung. Die Aussagen bleiben situativ un­bestimmt und durch das Fehlen eines konkreten Gesprächspartners entbehren sie jeder dialogischen Dynamik: Charlotte v. Wnuck, Berlin Regentenstraße 3. c., ist die jüngre von zwei Schwestern. Die ältre hat sich eben(was Veranlassung zu Wiederauf­nahme der Bekanntschaft giebt) an einen Oberstlieutnant verheirathet. Sie haßt alles was»trivial« ist und schwärmt für Poetisches. Sie ist auch kirchlich.»Ich finde den Unglauben trivial, vor allem ganz unpoetisch; das zieht mich in die Kirche, trotzdem ich dem Dogma mißtraue, wenn ich mir diesen Ausdruck erlauben darf. Vielleicht wäre es richtiger zu sagen: das Dogma mißtraut mir, es will sich mir in seiner Größe nicht recht erschließen; ich bin nicht auserwählt. Aber es findet sich wohl noch. Ich finde mich nämlich zu kirchlichen Männern am meisten hinge­zogen, ihr heiliges Amt und dann weil sie meist etwas ausgesprochen Männliches haben. Sie haben oft einen Blick, daß man an Hypnose |glauben könnte.«(F I, 314) Die Dynamik einer konkreten Gesprächssituation ist auch deshalb für Fon­tanes Erzählen so elementar, weil seine Figurenkonzeptionen ansonsten überwiegend statisch angelegt sind. Greifbarstes Zeugnis dieser tendenzi­ellen Statik ist neben seiner Vorliebe für die bereits angesprochenen en bloc-Charakterisierungen der häufige(und oft damit einhergehende) Ein­satz von Figurenzitaten. Darunter möchte ich mit Nobert Mecklenburg»Re­defragmente« verstehen,»die der Erzähler aus einem vorausgesetzten, je­doch nicht näher bestimmten Gesprächskontext herausgreift, um Figuren durch ihre Redeweise zu charakterisieren.« 15 Sie finden sich in den Entwür­fen und Fragmenten ebenso häufig wie in den abgeschlossenen Texten. Zum Projekt Der Menschenfresser beispielsweise notiert Fontane die Ab­sicht, die Hauptfigur der humoristisch angelegten Erzählung als»Extrem­und Paradoxensprecher« zu charakterisieren:»[D]ann gebe ich aber aus mir, als Erzähler, heraus einige Beispiele für seine Sprechweise: den Feig­ling, den Hochstapler, die Giftmischerin[] Seine Spezialität waren: Ret­tungen, theils historische, theils literarische«(F I, 256). Die routinisierten Redeweisen sind von einem spezifischen Gesprächskontext abgelöst, sie benötigen also gerade nicht jene Einbettung in eine konkrete Situation, an der, wie gesehen, Fontanes Erzählen ansonsten gern seinen Ausgang nimmt. Kompensiert wird diese fehlende situative Dynamik dadurch, dass