130 Fontane Blätter 114 Dossier: Fontanes Fragmente nicht hinreichend erklären. Denn es handelt sich nicht einfach um einen aufgeklebten Korrekturzettel. Die Rückseite des Aufklebers ist unbeschrieben, und er verdeckte auch keine verworfene, durch eine Vielzahl von Korrekturen unlesbar gewordene Textpassage. Ähnlich verhält es sich mit dem Blattfragment, das bereits die Zuschrift von Oscar Bie enthält(Dokument 13). Offenbar diente Fontanes Makulaturverwertung auch anderen Zwecken und war wenigstens in Teilen nebenher eine Form disparater Aufbewahrung von Dokumenten, die eigentlich nicht für die Archivierung bestimmt waren bzw. sich nicht dafür eigneten. Womöglich lassen sich sogar Interferenzen zwischen Vorder- und Rückseiten feststellen. Aber das sind Fragen, die nur mühsam und vielleicht überhaupt nicht zu beantworten sind. Die Konsequenz dieser Untersuchung liegt auf einer ganz einfachen Ebene: Erfassen, was da ist! Interessant in dem hier dargestellten Zusammenhang ist der Artikel, den Fontane Otto Neumann-Hofer am 1. März 1895 für das Magazin für Litteratur schickte und den er anonym veröffentlichen wollte:»Meinen Namen, so relativ harmlos die Geschichte ist, möchte ich nicht drüber oder drunter setzen. So habe ich, als wirklich ›Gequälter‹, Torquato gewählt. Es handelt sich um die jetzige furchtbare Unsitte, jeden Tag um einen beliebigen Quark oder Blödsinn feierlich befragt zu werden. Ich kann mich nicht mehr davor retten. Seitdem ich den kleinen Artikel schrieb, sind schon wieder drei Anfragen eingetroffen. Sie werden wohl auch darunter zu leiden haben.« 31 Der Artikel erschien weder im Magazin für Litteratur noch in der Romanwelt, sondern in der Zeitschrift Neue deutsche Rundschau(Freie Bühne). 32 Er liest sich wie ein Kommentar zu der im Manuskript Melusine von Cadoudal überlieferten Korrespondenz Fontanes aus dem Frühjahr 1895, weshalb er hier noch einmal in Gänze abgedruckt wird: WIE DENKEN SIE ÜBER RUSSLAND ? Ein Nothschrei von TORQUATO. »Wie denken Sie über Russland ?« – so lautete vor Jahren der Titel eines oft aufgeführten kleinen Lustspiels, das, neben andrem, auch darauf hinauslief, das Lächerliche solcher Frage zu veranschaulichen. 33 Aber dies altkomische »wie denken Sie über Russland «, ist neuerdings eine Frage voll tiefen Ernstes geworden, verglichen mit den auf Antwort abzielenden Prozeduren, denen die sogenannten»führenden Geister der Nation« jetzt tagtäglich unterworfen werden. »Wie denken Sie über Russland ?« Offen gestanden, ich weiss es nicht; aber inmitten meines Nicht wissens, kann ich doch allenfalls versichern: »ich finde es zu gross oder zu klein; es ist das Land der Knute, darum bin ich dagegen, es ist das Land des Caviar, darum bin ich dafür.« Eine gewisse
Heft
(2022) 114
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