Dankesrede Sagarra 145 ben musste, versuchte ich es zum Ausgleich mit dem vorgeschriebenen Fontane-Text: Welcher war es? Frau Jenny Treibel – die spätere Schutzpatronin unserer verehrten Theodor Fontane Gesellschaft , zu der sie Charlotte Jolles 1990 in ihrer nachmals berühmten Präsidialrede bei der Gründung der Gesellschaft erkoren hat. Ich las und las, schmunzelte immer wieder und ließ das Buch erst liegen, als es nichts mehr zu lesen gab. Hier meinte ich wieder bei meinen geliebten viktorianischen Romanautoren angekommen zu sein, bei Trollope , Thackeray , Dickens und Mrs Gaskell . Mein erster Eindruck: So schrieb doch sonst kein deutscher Erzähler jener Epoche! Nicht wundern sollte man sich, dass Fontanes Rang als führender europäischer Schriftsteller nicht in der Bundesrepublik, sondern zuerst in England entdeckt wurde, denn in den fünfziger und frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahmen in Westeuropa nur wenige die Fon tane -Renaissance der Deutschen Demokratischen Republik zur Kenntnis oder wussten von ihren Trägern, dem Arbeitskreis um das Potsdamer Fontane-Archiv. Allerdings verdankte Fontane seine Beliebtheit an angelsächsischen Universitäten weniger britischen Kollegen als vielmehr deutschen Exilantinnen, namentlich Mary-Enole Gilbert 3 und freilich auch unserer Charlotte Jolles . Dass sie es waren, deren reiche Kenntnisse der europäi schen Literatur die Koryphäen der(Fontane-)Forschung der nachfolgenden Generationen hervorbrachten – Renate Böschenstein in Berlin und Genf , Herman Meyer in Amsterdam oder Robert Minder in Paris – kommt nicht von ungefähr. Jede und jeder von uns hat ›ihren‹ bzw. ›seinen‹ Fontane . Was mich bei ihm gleich anzog, war zum einen sein Humor, sein understated, ein subtiler, für mich als Irin recht ›englischer‹ Humor, mit dem er so viele seiner Figuren einführt und begleitet, und, zweitens, dass ihm, wie Charles Dickens , seine Nebenfiguren wie Schickedanz samt Ehegesponst oder Olga Pittelkow, die freche kleine Egoistin, nicht weniger Sorgfalt abverlangen als seine Hauptcharaktere. 4 Dazu kam noch etwas, das mit meiner eigenen Biographie aufs Engste verbunden ist. Es ist nicht zu viel gesagt, dass es Theodor Fontane war, der mich mit meiner damals als ›verfehlt‹ empfundenen Laufbahn aussöhnte. Denn: Seit meinem neunten Lebensjahr wollte ich Historikerin werden, nichts als Historikerin. Dieser Ehrgeiz begleitete mich durch die Schulzeit, die Grundschul- und die Gymnasialjahre bis weit in die Studienzeit hinein. In Dublin belegte ich Geschichte im Hauptfach; Germanistik und Romanistik bildeten die Nebenfächer. Nach dem Grundstudium ging es dann mit einem großzügigen Stipendium des Deutschen Akademischen Austausch dienstes nach Freiburg im Breisgau und danach mit einem irischen Staatsstipendium nach Zürich , wo ich gern geblieben wäre, aber auf der Suche nach einem Doktorvater in der Geschichtswissenschaft bald nach Wien wechseln musste, und zwar, um mit Fontane zu reden, aus den schlechtes-
Heft
(2022) 114
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