Heft 
(2022) 114
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166 Fontane Blätter 114 Rezensionen stark betonten relationalen Charakter der Realismen des 19. Jahrhunderts Rechnung. In acht eigenständigen Einzelstudien(zu Willibald Alexis , Paul Heyse , Theodor Storm , Gottfried Keller , Conrad Ferdinand Meyer , Fried­ rich Spielhagen , Adalbert Stifter , Marie von Ebner-Eschenbach , Wilhelm Raabe ) wird Fontanes spezifischer Realismus vor dem Hintergrund und im Abgleich mit den Hauptvertreter:innen des deutschsprachigen Realismus profiliert. Hervorgegangen ist der Band aus einer Vortragsreihe der Fonta­ne Gesellschaft, Sektion Schleswiger Land, in den Jahren 2017 bis 2019. Das bisher Gesagte gibt den Fokus der vorliegenden Darstellung jedoch nur unzureichend wieder, denn ehe mit Willibald Alexis die erste Konstel­lation des Fontane-Kosmos entfaltet wird, hat der/die Leser:in bereits hun­dert Seiten zum Poetischen Realismus im Allgemeinen und Fontanes Poetik im Besonderen hinter sich, wobei das literarhistorische Ensemble schon hier deutlich über das Inhaltsverzeichnis hinaus um Figuren wie etwa Otto Ludwig , Berthold Auerbach oder Karl Gutzkow , aber auch nicht-deutsch­sprachige Realisten wie Émile Zola oder Iwan Turgenjew erweitert wird und damit um solche Autoren, die sich ebenso für ein eigenes Kapitel ange­boten hätten. So besehen überschreitet das Buch seine vordergründige inhaltliche Begrenzung gerade in den ersten drei Kapiteln, die die folgen­den Autorenstudien gewissermaßen poetik- und epochengeschichtlich kon­textualisieren, sehr zum Gewinn seiner Leserschaft. Dass trotzdem ganze Felder wie das der Lyrik und Dramatik ausgeklammert werden, ist pragma­tisch nachvollziehbar. Leitend für das erörterte Realismusverständnis ist die»Differenz zwi­schen literarischer und Welt-Erfahrung«(S. 25), zwischen»Weltgehalt und Eigensinn«; die Hinwendung zum lebensweltlichen Alltag geschieht im zu­nehmenden Wissen und Problematisieren der gesellschaftlichen und medi­alen Konstruktion von Wirklichkeit. Die hier betrachteten unterschiedli­chen Schreibweisen präsentieren sich in diesem Sinne als verschiedene Lesarten von Wirklichkeit, was sie zugleich zeichen- und konstruktionsbe­wusst reflektieren. Die nachvollziehbare Sympathie für ästhetisch komple­xe, ihre poetische Eigenlogik selbstreflexiv behauptende und gesellschafts­kritisch operierende Texte, die in der Tradition von Kants Kritiken verortet werden, führt jedoch zu einer Argumentationsfigur, wonach davon klar jene realistischen Werke und Autoren zu unterscheiden seien, die in der Folge von Hegels als defizitär erachteter Ästhetik(vgl. S. 32) literarisch und ideologisch unterkomplex die Kunst zur Rhetorik degradierten und bloß den Horizont des gesellschaftlich Bestehenden aus- bzw. fortschreiben würden. Als prototypischer Konterpart eines gesellschaftlich und litera­risch problembewussten Wirklichkeitsverständnisses wird vor allem Gus­ tav Freytag ausgemacht, aber auch etwa Berthold Auerbach wird im Zu­sammenhang mit dessen theoretischer Betonung streng motivierter Handlungskompositionen eine unterkomplexe Kunstauffassung attestiert