Über diese entscheidende Szene, die für den Roman als Schloßgeschichte zentral scheinen muß, findet der verblüffte Leser nur zwei bis drei Zeilen (69). Besteht einerseits eine solche Lücke und wird andererseits das Potential einer Parallele zwischen „Graf Petöfy" und „Effi Briest" nur halbwegs verwirklicht, dann fragt man sich, wie sich Titel und Untertitel bei Karla Müllers Arbeit zueinander verhalten. Außerdem werden dem Schloß z. T. widersprüchliche Attribute als Schema aufgezwungen. Bei „Graf Petöfy" soll „der Elementarbereich des Wassers ... das Menschliche" verfehlen, „weil er das Individuum negiert. Entsprechend ist auch sein Gegenbereich „Schloß" ambivalent" (58). Auf den „Stechlin" läßt sich das nicht beziehen. Später heißt es dann: „Das .Schloß' ist hier (.Unwiederbringlich') wie dort (.Graf Petöfy') als Überschneidungsbereich von .Haus'-Prinzip (Statik) und .Elemeti- tar'-Prinzip (Dynamik) anzusehen" (90). Dagegen kommt ein Zeitroman, ein zeitgebundener Roman nicht an.
Methodische Unsicherheit verrät sich bei den folgenden Beispielen: „Hätten Heilungsmöglichkeiten bestanden?" (bei Christine, 72); „Holk ist eine der gesündesten Figuren im ganzen Roman. Es könnte deshalb von ihm in erster Linie verlangt werden, Verständnis zu üben" (79) oder: „Wenn sich Christines Augen mit Tränen füllen (...) deutet dies auf eine innere Bewegtheit hin, die signalisiert, daß hier etwas den innersten Kern ihres Wesens und Leidens getroffen hat" (86). Daneben stehen auch einsichtsreiche Anregungen. Karla Müller zeigt z. B„ wie im selben Roman die Krankheit „auf gesellschaftliche und politische Zusammenhänge verweist" (84), kennzeichnet sehr treffend die polare Gegensätzlichkeit von Graf und Gräfin (77), und deutet Christines Freitod als „Hingabe an die Elemente bei gleichzeitiger Preisgabe des Christentums (. ..) so erweist sich schließlich die andere Hälfte ihres Ichs, die erotische, als die stärkere" (76). Somit wäre Christines Tod als Gegensatz zu dem zu sehen, wovor Holk (mit Ebba) zurückgeschreckt hat, ein umfunktionierter Liebestod. Wie auch anderswo bei Fontane würde dann das bürgerliche Schloß im Hintergrund lauern, nämlich die Villa Wahnfried.
Vom Wertmaß der Poesie. Literaturbetrachtungen von Goethe bis Fontane. Hrsg, von Jürgen Israel. — Rostock: Hinstorff 1988. 656 S.
(Rez.: Joachim Biener, Leipzig)
Mitte der 50er Jahre veröffentlichte Hans Mayer bei Rütten und Loening in Berlin „Meisterwerke deutscher Literaturkritik". Band I galt „Aufklärung, Klassik, Romantik' und brachte literaturkritische Texte von Gottsched bis Hegel. Die in Band II versammelten Kritiken waren offenbar unter literarischen Epochenbezeichnungen nicht zu fassen; er trug den Untertitel „Von Heine bis Mehring". Die Fortsetzung bis 1933 unter dem Titel „Deutsche Literaturkritik im 20. Jahrhundert. Kaiserreich, 1. Weltkrieg und 1. Nachkriegszeit" konnte nach Mayers Weggang aus der DDR nur im Henry-Goverts-Verlag in Stuttgart erscheinen. Der Herausgeber ließ dort 1971 noch einen zweiteiligen vierten Band „Deutsche Literaturkritik der Gegenwart" mit Kritiken aus der Zeit nach 1945 folgen.
Diese Sammlungen, besonders die ersten beiden Bände, waren m. E. das Vorbild für alle später in der DDR erschienenen Kritik-Anthologien. Die Kritiken-Dokumentatio-
140