Heft 
(1990) 50
Seite
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sozialen Drama zwei entgegengesetzten Auftraggebern gedient, Proletariat und Bürgertum. Brecht und Fontane unterscheiden sich freilich in der Wertung dieses Widerspruchs. Auch die Kritik überFamilie Selicke" zeigt Fontane als scharfsinnigen Analytiker, der den entscheidenden Punkt erfaßt.Macht der Finsternis" undVor Sonnenaufgang" seien bei allen Neuerungen noch stark der Tradition verbunden, erst mit dem Stück von Holz und Schlaf beginne durch die Dedramatisierung und die Wiederholungeneigentlichstes Neuland".Diesen Stücken, ,die keine sind", werdedie Zukunft gehören". Voraussicht des absurden Theaters! Auch fällt wieder die Sensibilität für den Ton des Werkes auf.

In der kurzenNachbemerkung" werden Prinzipien für die Auswahl mitgeteilt. Der Herausgeber geht von der Personalunion zwischen Schriftsteller und Kritiker im 18. und auch im 19. Jahrhundert aus, die später zu einer allgemeinenAufspaltung der literarischen Produktion" führte (S. 460). Diese Erkenntnis hatte Georg Lukäcs in seinem grundsätzlichen EssaySchriftsteller und Kritiker" (entstanden 1939 in der Emigration, abgedruckt in denEssays über Realismus", Aufbau-Verlag, Berlin 1948) bewußt gemacht, doch er und Hans Mayer werden nicht erwähnt, obgleich auf S. 462 ein großer Kreis vielfach unbekannter Personen benannt ist, denen sich der Heraus­geber verpflichtet fühlt.

Der Kunstwert der Kritiken bzw. ihr immanenter, für den Kritiker signifikanter Ästhetikcharakter sollte bei der Auswahl eine Rolle spielen. Das trifft vielfach zu, in exemplarischer Weise für Fontanes Kritik vonVor Sonnenaufgang", in der sich in beispielhafter Art subjektive Sicht und objektive Wertung, Sensualismus der Darstellung und geistige Transparenz durchdringen; doch dieser Kunstcharakter ist nicht immer gegeben, z. B. nicht in den Auslassungen des Matthias Claudius oder in Peter Roseggers Äußerungen überDie Leute von Seldwyla".

Der Begriff derBetrachtung" wird offenbar nicht mehr als belastet angesehen, und zwar nach der programmatischen Reduzierung der Kritik zurKunstbetrachtung' unter dem deutschen Faschismus. Zur theoretischen Abgrenzung der Genres der Kritik leistet das Nachwort keinen Beitrag.

Längsschnittbände wie der vorliegende mit Fontane als Endpunkt legen die Frage nahe: Ist Fontane mehr Ende oder mehr Anfang, Neubeginn? Traditionalist im Sinne des Alexandrinertums ist er in keinem Falle, da war er künstlerisch und theo­retisch zu vital, aber in jedem Fall ist er dem Übergang zuzuordnen. Ich aber neige dazu, ihn in hohem Maße als Vorläufer von künstlerischen Entwicklungen in) 20. Jahrhundert zu sehen. Dafür sprechen die Nähe zum Naturalismus und zu Tschechow, die Vorläuferschaft für die Romanschriftsteller Thomas und Heinrich Mann sowie zu den Kritikern Alfred Kerr und Siegfried Jacobsohn. Neben Anton Tschechow hat er objektiv ästhetische Prinzipien des italienischen Neorealismo von Cesare Zavattini und von Vittorio de Sica vorweggenommen, d. h. kunsttheoretisch durch die Betonung von Alltäglichkeit bzw. Unerheblichkeit der Fabel und ästhetisch­praktisch durch die Darstellung plebejischer Gestalten, ihrer Frage nach dem Glück.

Der Band bedeutet vor allem durch die Präsentation weniger bekannter Kritiken und durch die umfangreichen Erläuterungen und Anmerkungen eine Bereicherung unserer längsschnitthaften Sammelbände zur Literaturkritik.

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