Heft 
(1990) 50
Seite
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Aber freilich: schwer wiegen diese Einwände neben dem Gewinn, den die Ausgabe einbringt, nicht. Schon der Bestand der bisher bekannten und zugänglichen Texte, der mit großer Sorgfalt zusammengetragen wurde, übertrifft alle bisherigen Gedicht- Ausgaben. Und erstaunlicherweise sind noch einmal rund 130 bisher unveröffent­lichte Texte neu hinzugekommen, vor allem aus den reichen Beständen des Fontane- Archivs Potsdam (vgl. Bd. 3, S. 707). Die Entscheidung, von dem Arrangement der 5. Auflage derGedichte" auszugehen, aus der sich in vielem auch die weitere Anordnung logisch ergibt, überzeugt. Die nicht in dieser Ausgabe enthaltenen Texte werden so übersichtlich in Gruppen differenziert wie nirgends bisher. Und verdienst­voll ist, daß dabei immer wieder spürbar nicht nur von den Texten, sondern auch von den Kontexten her gedacht wird: Entschied dieser Gesichtspunkt bereits über die Beibehaltung der Gliederung derGedichte", so gilt er nur anders für die Stel­lung der Einzelpublikationen in einem übergeordneten Ganzen, wieder anders für die Gedichte in Prosatexten und wieder anders für die situative Funktion des Gele­genheitsgedichts.

Textgrundlage und Textbearbeitung

Mit der Entscheidung, die Gedichte in der Anordnung der Gedichtausgabe von 1898 zu bieten, lag es auch nahe, den kritisch überprüften Text dieser Ausgabe zu übernehmen. So entschied man für diesen Teil der eigenen Ausgabe wie für die Einzelpublikationen denn auch:Textgrundlage für alle zu Lebzeiten des Autors erschienenen Gedichte ist der letzte, für einen Teil der Texte der einzige Druck." (Bd. 3, S. 707) Richtig entschied man aber auch, daß für die Nachlaß- und Gelegen­heitsgedichte, auch soweit sie bereits publiziert waren, der direkte Rückgang auf die Handschriften oder wo nur diese erhalten waren Abschriften davon die einzig befriedigende Lösung war; nur in wenigen Fällen, wo früher verfügbare Hand­schriften oder Abschriften inzwischen verlorengegangen waren, mußte auf (jüngere) Drucke zurückgegriffen werden (vgl. S. 708). Eindeutige Druck- bzw. Schreibfehler sind in der Wiedergabe stillschweigend berichtigt worden. Ansonsten erfahren wir über die allgemeinen Prinzipien der Textbearbeitung:Orthographie und Inter­punktion sind behutsam modernisiert worden. Der Lautstand und charakteristische Besonderheiten von Fontanes Stil blieben unangetastet (u. a. Kaffee, Knix, in Folge)." (Bd. 3, S. 708) .Behutsam modernisiert': das ist inzwischen zu einer dehnbaren Standardformel geworden, derer sich viele Ausgaben bedienen. Man muß genauer Prüfen, was sich darunter verbirgt. Für Fingerspitzengefühl und Mut zur historischen Treue spricht im vorliegenden Fall sicher, daß der Lautstand und Besonderheiten des Fontane-Stils respektiert werden. Gemessen am editorischen Standard der DDR. der für Lese- und Studienausgaben eine eher weitreichende Modernisierung verlangt, geht die .Behutsamkeit' hier also schon recht weit. Gemessen an jüngeren Tendenzen in der Bundesrepublik, die den Erhalt der Interpunktion, von Getrennt- und Zusam- nienschreibung, von Groß- und Kleinschreibung fordern, geht sie nicht weit genug. Gegen die Praxis in Ost und West frage ich zusammen mit deutlicher werdenden Stimmen aus der Editionswissenschaft, ob überhaupt modernisiert werden muß. Ohnehin ist die historische Fremdheit bei Texten, die 100 bis 150 Jahre zurückliegen, nicht sehr groß, und eine anspruchsvolle Studienausgabe darf sie dem Leser zumuten. Doch versteht sich das weniger als Maßstab, von dem aus geurteilt wurde, denn als Trage an eine hoffentliche gemeinsame editorische Zukunft.

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