Fontane an Kürschner
Berlin 6. Juni 83.
Hochgeehrter Herr Professor.
Ergebensten Dank für Ihre gef. Zuschrift vom 29. v. M.
In der Voraussetzung, daß Sie's mit dem Worte Roman so streng nicht nehmen und nur etwas längres Erzählendes darunter verstehen werden, steh ich jeden Augenblick zu Diensten, ein Wort das übrigens nur den hohen Grad meiner Bereitschaft ausdrücken soll. Denn in Wahrheit heißt „jeden Augenblick" so viel wie „nach einem Jahr" oder doch nicht viel weniger.
Ein kleiner Roman oder richtiger eine längre Novelle, drei bis vier Ihrer Bogen stark, liegt seit vorigem Jahr im Brouillon in meinem Kasten und ich würde diese Novelle während der Spätherbstmonate für Sie zurecht machen, wenn Sie mit dem Stoff einverstanden sind.
Titel: Stine. (Abkürzung von Justine.)
Stine ist die blonde jüngere Schwester einer brünetten Wittwe, typische Vorstadts-Berlinerin, die mit einem kleinen Mädchen, das zufällig legitim ist, als »Freundin" eines gräflichen alten Gargons lebt, der nun seine Abende bei ihr zubringt. Er erscheint meist mit Freunden; allein ist es ihm zu langweilig. Unter diesen Freunden ist auch gelegentlich einmal (und damit beginnt die Novelle) sein Neffe, 27jährig, kränklich, Anno 70 schwer verwundet und blos kümmerlich wieder zusammengeflickt. Höchst wohlwollender aber misanthropischer Garde- Lieutenant a.D. Er sieht Stine bei der „Reunion", und den Rest brauch' ich Ihnen kaum noch zu erzählen. Er liebt Stine wirklich, will sie heirathen und in die weite Welt gehn, - frei sein, glücklich sein, und vor allem auch bessere Luft athmen, was seine schwachen und hart mitgenommenen Lungen durchaus erheischen. Der allgemeine Widerstand gegen seinen Plan aber, zuletzt auch Stinens selbst, läßt ihm das Leben werthlos erscheinen und er tritt vom Schau-
Platz ab. Den Schluß bildet sein Begräbniß in einer märkischen Dorfkirche,
Stine zugegen, und danach die Rückkehr Stinens zu ihrer Schwester. Diese Schwester ist die Hauptperson, das Original.
C'est tout! Von Handlung, Ueberraschungen etc. keine Spur; nichts von Intri- gue, Sensation, Tendenz. Etwas ganz Alltägliches. Das Neue liegt nur darin, wie speziell mein Auge dies Alltägliche sieht.
Wollen Sie's darauf hin wagen? Die schönrednerische Novelle stirbt aus, das «Mandelauge" thut über kurz oder lang seinen letzten Aufschlag; aber es ist möglich, ja gewiß, daß die Majorität der Leser vorläufig noch an der alten Form
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