Kürschner an Fontane
Fontc
30. V [188] 8.
Sehr geehrter Herr!
Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie nach so langer Zeit noch unsrer gedenken und in so ausführlicher Weise sich über Ihr neues Werk auslassen. Leider vermag ich Ihnen in Ihrer Annahme, daß die Novelle für unsre Zeitschrift nicht passen würde, kaum zu widersprechen und deshalb möchte ich Sie mit der Zusendung des Manuskriptes nicht erst belästigen.
Glauben Sie mir, wenn ich lediglich von meinem eigenen literarischen Standpunkt aus zu entscheiden hätte, ich die Arbeit ohne Weiteres annehmen würde. Doch müssen wir gewisse Rücksichten, die Sie selbst in Ihrem Briefe bezeichnen, walten lassen. Ist es aber auch deshalb nicht möglich, diesmal Ihre Arbeit in „Vom Fels zum Meer" abzudrucken, so hoffe ich doch zuversichtlich, daß Sie mir früher oder später irgendetwas andres für unsre Zeitschrift senden und bitte aufs herzlichste darum.
In ausgezeichneter Hochachtung begrüße ich Sie als
Ihr ergebenster [Kürschner]
in so ausführlicher Weise. ... - Fontane hatte Anfang 1887 das „Stine"- Brouillon überarbeitet, das im Januar 1888 von seiner Frau abgeschrie bene Manuskript erneut korrigiert und die Novelle bereits am 3. Januar 1888 dem Verleger Dominik angeboten. Dominik lehnte die Veröffentlichung als „zu brenzlich" ab (Tagebuchnotiz Fontanes). In seinem ausführlichen Brief an Kürschner vom 20. Januar 1888 bat Fontane, „von der Abmachung Abstand nehmen zu wollen". Er wußte, „daß sich der Durchschnittsgeschmack und die Durchschnittskritik gegen ihn auflehnen" und daß er „wenigstens mit Arbeiten wie Stine kein Schriftsteller für den Fa milientisch mit eben eingesegneten Töchtern" war.
„Wollen Sie's wagen, gut, wollen Sie's nicht wagen, auch gut, weil e s mich aus einem Unsicherheitszustand befreit, aus dem Gefühl des Gebundenseins mit doch schließlicher Aussicht auf Ablehnung."
Nach der erwartet-befürchteten Ablehnung Kürschners versuchte Paul Schlenther, „Stine" an Stephany, den Chefredakteur der „Vossischen Zei- tung", zu vermitteln, aber auch dieser Versuch scheiterte. Stephany beugte sich dem Geschmack des Publikums, das den Abdruck von „Irrungen. Wirrungen" als unzumutbaren Affront gegen Sitte und Anstand betrachtet hatte. Erst Fritz Mauthner, einer der Wortführer des deutschen Na- turalismus, besaß den Mut, „Stine" in seiner Wochenschrift „Deutschland zu publizieren (Januar-März 1890).
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