stellt wurde ihnen das Volk Israel mit dem biblischen, aber neu übersetzten „Jubellied nach dem Durchzuge durch das Rothe Meer". 13 Jedem Volk war eine poetische Einleitung gewidmet, und Zwischentexte in Vers oder Prosa, alles aus der Feder von Tunnel-Poeten, stellten die Verbindungen her. Man legte Wert auf die Objektivität der Zusammensetzung. Und so ertönte denn im Reigen der Gesänge und der Rezitationen, von denen einige der Schauspieler Seydelmann übernahm, aus den Kehlen eines Männerquartetts der Königlichen Oper die Marseillaise 14 , gefolgt von der russischen Zarenhymne, an die sich wiederum das in Rußland natürlich verbotene, in Deutschland zum geflügelten Wort gewordene „Noch ist Polen nicht verloren" anschloß. Mit einer Gruppe von sechs Beiträgen, die für das deutsche Nationallied standen, endete die Vortragsfolge. Sie hatte laut Protokoll „einen tiefen Eindruck auf die Gemüther der Anwesenden hervorgebracht" 15 , die sich danach zu Tisch setzten.
Das Programm, das sie vernommen hatten, will mit dem gewohnten Bild vom Tunnel nicht recht harmonieren. Die gesinnungstüchtigen preußischen Patrioten legten mit der Wahl der europäischen Nationallieder eine beträchtliche Weltoffenheit an den Tag. Gegenüber politischen Gegenständen von zum Teil erheblicher Brisanz verhielten sie sich ziemlich unbefangen, obwohl der Paragraph 2 des Statuts, der von der Tendenz des Vereins handelt, ausdrücklich besagte: "Religiöse und politische Beziehungen bleiben ihm fremd." 16 Einer Berücksichtigung aus Kunstgründen scheint das nicht im Wege gestanden zu haben. Denn an der Bereitschaft, die nationalen Gesänge als politische und die politischen als Kunstgebilde zu betrachten, lassen schon die ersten Protokollnotizen über das Vorhaben keinen Zweifel. Der Tunnel entschied sich am 2. Juli „nach interessanter und bewegter Debatte", die vom Volkslied schlechthin ausgegangen war, für „1. das eigentliche Nationallied mit seiner zweiten Richtung zum politischen Gedicht aller Zeiten und Völker, 2. für das Kriegslied mit seiner untergeordneten Richtung des Soldatenliedes. Die fremdländischen sollen von Mitgliedern übersetzt, die deutschen im Original mit besonderer Rücksicht auf die Verschiedenheit der Nationalität durch eine mehr belletristische als wissenschaftliche Poetische Verbindung zu einem großen und übersichtlichen Ganzen vereinigt werden.' 17 Auch als die Vorbereitungen fortschritten, wurde wiederholt und ohne Problematisierung von politischen Liedern gesprochen.
Der Vorwurf, den Robert Prutz wenig später an die Politiker des Ancien regime und an die „Ästhetiker" richtete, sie seien sich einig über die Unvereinbarkeit v on Politik und Poesie, traf demnach auf den Tunnel des Jahres 1840 so nicht zu - „Die Einen wollten keine politische Poesie, die Andern keine politische Poesie", bemerkte Prutz, um dann jedoch den Politikern ihre Heuchelei vorzuhalten. Sie hätten die politische Poesie da, wo sie ihnen Nutzen brachte, dennoch „sogar veranlaßt, aufgemuntert und belohnt, und ihr einen Platz in dem officiellen Kanon der Loyalität und des Patriotismus eingeräumt. Denn wem gönnte es entgehen, daß die sogenannten patriotischen Lieder, die Nationalhymnen und Volksgesänge, mit denen wir bei festlichen Veranlassungen unsre gute Gesinnung an den Tag zu legen pflegen, eigentlich und in Wahrheit dem
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