Zschiesche, der das Lied in Potsdam vorgetragen und es inzwischen auch bei anderen Gelegenheiten gesungen hatte, damit zum Stiftungstag des Tunnel vor die begeisterte Festgemeinde. 28 Seitdem wurde auf den Stiftungsfesten, nachdem der obligatorische Toast auf den König ausgebracht war, Jahr für Jahr das „Preußenlied" gesungen.
1839 jedoch schlug der Verein an dieser exponierten Stelle mit Ernst Moritz Arndts „Was ist des Deutschen Vaterland?" andere Töne an. Das partikularisti- scbe Bekenntnis wich einem Lied, dem bescheinigt wird, daß es die Funktion eines deutschen Nationallieds erfüllte, „in dem durch die starke Betonung der sprachlich-kulturellen Einheit der Deutschen und der Zusammengehörigkeit der deutschen Regionen und Länder zwangsläufig auch der Gedanke an die staatlich-politische Einheit der Nation geweckt wurde. Das Arndtsche Vaterlandslied wurde nach dem Wiener Kongreß, also nach der Schaffung eines restaurativ-staatenbündischen Systems in Deutschland, als eine - wenn auch etwas verblümt formulierte - politisch-oppositionelle Meinungskundgebung empfunden. Durch Arndts Lied, das so gut wie auf jedem vormärzlichen Turnerund Sängerfest intoniert wurde [...], ließen sich Turner, Sänger und nicht- organisierte Zuhörer regelmäßig in eine ausgesprochen patriotische Gefühlswelt versetzen." 29
Deswegen geriet der Literarische Sonntagsverein zu Berlin gewiß nicht in die Nähe der nationalgesinnten Turner- und Sängervereine. Aber zumindest zeigte er sich am Vorabend der Rheinkrise und des preußischen Thronwechsels, die das Jahr 1840 zu einem Jahr der liberalen Erwartungen und patriotischen Hochgefühle machten, von der nationalen Bewegung nicht unberührt. Im Tunnel war der Nährboden vorhanden, aus dem bei der Verabschiedung des fertig vorliegenden Programms für das Stiftungsfest die ergänzende Auflage erwuchs, „daß es mit dem Liede von Becker: .Der freie deutsche Rhein' schließen solle." 30 Daß der Verein den Überschwang teilte, nach dem jenes Lied „plötzlich, wie ein Pilz über Nacht, zur deutschen Nationalhymne, zur Marseillaise der Deutschen und Gott weiß, zu was noch, emporgeschossen sein sollte", 31 ist nicht gesagt und eher unwahrscheinlich. Aber als deutsches Nationallied anerkannt wurde der Beckersche Erfolgstitel durch seine Aufnahme ins Programm zweifellos. Wen störte es, daß auf das formelhaft wiederholte „Sie sollen ihn nicht haben, / den freien deutschen Rhein", woraus das Lied einen Teil seiner Durchschlagskraft bezog, unter anderem die famosen Verse folgten „So lang die Flosse hebet/ ein Fisch auf seinem Grund / So lang ein Lied noch lebet / in seiner Sänget Mund!" 32 Mit dem Rheinlied als Höhe- und Schlußpunkt seiner Darbietungen schwamm - um in Beckers Bildlichkeit zu bleiben - der Verein im Strom der loyalen patriotischen Begeisterung mit, der die deutschen Lande überschwemmte und den Regierungen gerade recht kam.
III
So weit so gut, hätte nicht das Programm der europäischen Nationallieder eine Nachgeschichte erlebt. In den vierziger Jahren wuchs das Interesse an diesen
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