Heft 
(1991) 51
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Liedern und Hymnen. Der bekannte Berliner Musikverlag Schlesinger veröf­fentlichte seine ReiheNationallieder aller Völker", die mit ArndtsWas ist des Deutschen Vaterland?" als Nr. 1 begann und es im Lauf dreier Jahrzehnte auf 57 Einzeltitel brachte; der letzte war Max SchneckenburgersDie Wacht am Rhein'. 33 Aber auch Louis Schneider entsann sich der Tunnel-Veranstaltung. Er baute die Nummernfolge aus und um, inszenierte das Ganze für die Bühne und führte es zunächst 1845 in der BerlinerGesellschaft der Freunde", 1846 dann im Potsdamer Kasino in Form geschlossener Vorstellungen auf. Der Er­folg war beide Male beträchtlich, so daß die Veranstaltung das Jahr darauf nunmehr in voller Öffentlichkeit dem Berliner Theaterpublikum gezeigt wer­den sollte. Alles war vorbereitet, der Konzertsaal im Königlichen Schauspiel­haus bewilligt und ausverkauft, die Konzertzettel gedruckt; die Generalprobe, an der die ganze Sängerschaft der Oper mitwirkte, verlief vielversprechend. Jedoch, so erinnerte sich Schneider,am Abende, während der Theater-Vorstel­lung, lief) mich plötzlich seine Königliche Hoheit der Prinz von Preußen von der Bühne in den Treppengang rufen, welcher diese mit dem Konzertsaal verbin­det, und fragte mich, welche Bewandtniß es mit der morgenden Aufführung habe, und wie ich dazu komme, revolutionäre Lieder singen lassen zu wollen. Aus dem ernsten Tone, mit dem Seine Königliche Hoheit diese Frage an mich rich­tete, erkannte ich, daß der Inhalt der Konzertzettel und der Textbücher zu Mißverständnissen Veranlassung gegeben haben mußte, während die Erklärung der Tendenz des Ganzen gerade in den einleitenden und verbindenden Gedich­ten lag. Ich versuchte, das zu erklären, erreichte damit aber nur, daß seine Königliche Hoheit diese Gedichte, in denen nach meiner Ueberzeugung die Berechtigung zu der sonst ganz willkürlichen Zusammenstellung lag, Selbst lesen wollte. Nach Beendigung der Vorstellung holte ich die Manuskripte aus deiner Wohnung und brachte sie in das Palais Höchstdesselben." 34

Wiedergesehen hat er sie nicht. Anderntags war die Aufführung verboten, eine Begründung wurde nicht gegeben. Insgeheim stellte man obendrein den Veran­stalter unter Polizeiaufsicht. Es half Schneider nichts, daß sein Programm ebenso loyal, konservativ und royalistisch war wie er selber. Schließlich war er nicht umsonst Persona gratissima bei Friedrich Wilhelm IV. in Potsdam und in St. Petersburg bei Nikolaus I. Daran änderte sich übrigens durch den üblen Aus­gang des Nationallieder-Projekts nichts, der ein Beispiel mehr ist für die Fehl­leistungen, die in der Luft liegen, wenn hochgestellte Personen die Zensur in e igene Hände nehmen. Schneiders berufliche und gesellschaftliche Karriere, die zum Erstaunlichsten gehört, was die preußische Hauptstadt im Vor- und Nach- m ärz gesehen hat, blieb unbeeinträchtigt.

Was war mit dem Programm, das ja ursprünglich eine reine Tunnel-Produktion gewesen ist, unter Schneider geschehen? Er führte es etappenweise der großen Öffentlichkeit und der ökonomischen Verwertung zu. Davon ist nichts abzu- streichen, wenngleich der Reinerlös dem Unterstützungs- und Darlehensfonds Zu gute kam, den er bei den Königlichen Theatern gestiftet hatte. Um eine Vor­stellung von der Größenordnung zu geben: der Konzertsaal im Schauspielhaus

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