eine Gestalt beleben und ihr Rundung geben, auch herbeischaffen können; er hat es nicht gewollt und wird seine guten Gründe dafür gehabt haben. Ich bekenne aber doch, daß mir Gestalten, von denen ich glaube, die Knöpfe des Rockes und die Venen der Hand zählen zu können, lieber sind als diese Richtungen und Prinzipien vertretenden Schatten.' (NFA 21/2, S. 110 f)
Wenn ihm Gelegenheit geworden wäre, hätte Fontane vermutlich den „Mann von fünfzig Jahren' in etwa so charakterisiert wie „Die natürliche Tochter" und „Die Wahlverwandtschaften':
„In diesen Nöthen flieh ich zum alten Göthen und lese die .natürliche Tochter' und die .Wahlverwandtschaften'; ich bewundre es und finde es tief-langweilig. Als Beobachtung des Lebens und Weisheits-Ansammlung klassisch, aber kalt und farblos. Es muß doch wirklich irgendwo fehlen, wenn ein 50jähriger Mann, der sein Leben an diese Dinge gesetzt hat, dazu den besten Willen mitbringt, und durch Schiller, Scott, ja selbst durch Storm, Heyse, Wilbrandt, in ihren beßren Hervorbringungen vollständig befriedigt werden kann, wenn der die .natürliche Tochter' mit den Worten zuklappt: Form klassisch, Inhalt Misere, Grundanschauung weise aber klein.' (Ha Br 11/325)
Daß Fontane von den Gestalten der Dichtung erwartet, „die Knöpfe des Rockes und die Venen der Hand" zählen zu können, deckt sich mit seiner Einschätzung des Heidereiters, der die „ Prätension " erhebt, „ein so faßbarer Kerl zu sein, wie nur je einer über die Heide gegangen ist." (Ha Br III/181) Die Anschaulichkeit, die Faßbarkeit, das nachprüfbare Verankertsein der Figuren in einer realen Umwelt, das sind Grundforderungen Fontanes an die Erzählkunst. Man kann sich vorstellen, daß seine Abneigung gegen Goethes Alterskunst bereits bei der Namensgebung begonnen hat. Was sollen ihm Namen wie Hilarie, Hersilie, Makarie, Eugenie und Natalie? Er, der so viel Mühe darauf verwandt hat, Namen zu erfinden, die die Vorstellung des Lesers in eine bestimmte Richtung lenkten, wie hätte er nicht den Gedanken fassen sollen, dem Kunstnamen H i l arie den vertrauten, alltäglichen Namen H i l - de fast programmatisch entgegenzustellen? Einer realitätsfernen, beinahe elitären Gesellschaftswelt wird eine ländlich-irdische entgegengesetzt, die sehr viel bewußtseins- und geistferner, aber auch erdschwerer ist. Wie Hilarie, so hat sich auch Hilde zwischen Vater und Sohn zu entscheiden. Aber der (zunächst) selbstsicheren und in voller Freiheit getroffenen Entscheidung Hilariens für den Vater steht die aus tiefer in- nerer Unsicherheit hervorgehende und nur dem unduldsamen Drängen Martins nachgebende Entscheidung Hildes für den Sohn gegenüber. Die Gleichheit lieg t darin, daß beide ihre Wahl revidieren müssen. Aber der Weg zu dieser Revision, wie unterschiedlich ist er! Die Ähnlichkeit besteht nur darin, daß der geistig-seelische Prozeß, der Hilarie schließlich zu Flavio und Hilde zu Baltzer Bocholt führt, weithin im Dunkel gelassen wird. Aber Goethe deutet wenigstens
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