sehen Schlüsselszene, deren Bedeutung für das Geschehen in „Ellernklipp" bisher kaum gesehen worden ist.
Ohne daß der Leser über die genaueren Umstände unterrichtet würde, wird erzählt, daß Baltzer Bocholt einen Wilddieb erschoß, der ihm seinerseits den Tod angedroht hatte. Eine Tat, die ganz im Einklang mit seinem Charakter steht und beim Leser keine Verwunderung auslöst. Bocholt steht fest auf dem Boden des Gesetzes und ist streng nicht nur zu sich, sondern auch zu anderen. In seiner Umgebung aber hält man dafür, daß der Todesschuß unnötig gewesen sei. Selbst die Gräfin auf dem Schloß zweifelt an der Richtigkeit seines Tuns. Fontane aber fügt seine Erzählung so, daß es gerade diese der Rechtsordnung dienende Tat ist, die den Heidereiter schließlich auf den Weg des Verbrechens bringt. Im Dorf nämlich, wo man die Wilderei sehr nachsichtig und milde beurteilt, „weil ihnen allen der Wilddieb im Leibe steckt" (199), stößt Bocholts rigorose Anwendung des Gesetzes auf einhellige Ablehnung. Er steht nach der Tat der Dorfgemeinschaft isoliert gegenüber und bekommt ihren Haß und ihre Verachtung zu spüren. Bei der Einsegung seiner Kinder wird das vor aller Augen offenbar. Verlassen sitzt er hinter den Kindern in der Kirchenbank; die Plätze neben ihm sind unbesetzt geblieben, und der „in seiner Ehre gekränkte Mann“ (201) versinkt in Erbitterung. Es ist Hilde, die den Ausgestoßenen erlöst : „ein ungeheures Mitleid erfaßte sie ... und sie vergaß ihrer Angst und lief aul ihn zu und küßte ihn." (201) Dieser spontane Kuß in einem Augenblick, da sich alle von ihm abkehren, übt auf ihn eine verwandelnde Wirkung aus. Er hat Hilde schon immer gemocht, aber ihr freies Bekenntnis zu ihm gerade jetzt, wo ihn die Allgemeinheit ächtet, weckt in ihm eine tiefe Leidenschaft für sie, die noch ein Kind ist; „Von Stund' an aber wär er jeden Augenblick für sie gestorben. Denn er war ein stolzer Mann, und es fraß ihn an der Seele, daß man ihn sitzen ließ, als säß er auf der Armensünderbank." (201) Hildes Gefühlsaufwallung bringt ihm seine Kraft und seine Selbstsicherheit zurück: „Und indem er sich höher aufrichtete, nahm er jetzt Hildens Arm und ging festen Schrittes aut den Ausgang zu, zwischen den verdutzt dastehenden Bauern und ihren krauen mitten hindurch.“ (201) Hilde hat sich nicht nur ein „ein Herz genommen“, sie hat auch ein Herz gewonnen. Es ist die selbstvergessene, durch ihre Unbedingtheit überzeugende Hinwendung zum Vater, die diesem seine Würde zurückgibt und in den Dörflern den Respekt und die Ehrerbietung wiedererweckt. Dieses schier unbegreifliche Eintreten für ihn, dieses Tun, das die Grenzen, die Alter und Charakter ihr setzen, mit einem Schlage sprengt, erhöht Hilde in den Augen Bocholts zu einem Wesen, für das er nur noch grenzenlose Zuneigung empfindet. Vom Tage ihrer Einsegnung an ist sie für den Heidereiter gleichsam über das Alltagsmaß hinausgewachsen.
Diese Szene ist der erzählerische Höhepunkt des Werks. Mag der dramatische Höhepunkt auch die Eifersuchtstat des sich betrogen fühlenden Vaters sein, erzählerisch eindrucksvoller ist diese befreiende Tat Hildes. Ihr Eingreifen führt zu einem tiefen Einschnitt in Baltzer Bocholts Lebensgefühl. Er hat bisher g e - meint, er könne sich allein auf seine Rechtlichkeit und Redlichkeit, seine Charakterfestigkeit und Frömmigkeit verlassen, und er erfährt nun, daß er
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