Heft 
(1991) 51
Seite
71
Einzelbild herunterladen

völlig ungesichert in der Welt steht. Einen Rückhalt hat er weder an der Gräfin (obwohl er doch allein in Verteidigung ihrer Interessen gehandelt hat) noch an den Dörflern, noch an der eigenen Familie (mit Ausnahme Grissels), denn Martin ist wie vom Erdboden verschwunden, als der Vater seines Beistands oder doch wenigstens seines Zuspruchs am dringendsten bedürfte. Jetzt tri­umphieren allein Hildes Herzensmut und ihr Mitleid. In einem spontanen Aus­bruch ihres Inneren bekennt sie sich mit aller Entschlossenheit und in aller Öffentlichkeit zu ihrem Pflegevater. Wohl ist sie sich der Kühnheit ihres Tuns kaum bewußt, aber sie beweist damit, daß unter der Decke von Müdigkeit und Laschheit eine Herzenskraft lebt, die diejenige ihrer Umwelt weit übertrifft. Hilde hat bewiesen, daß Sörgel recht hatte mit dem Hinweis auf das Geheimnis ihres Blutes, das es nicht erlaube, sie mit anderen Kindern zu vergleichen. An die Stelle einer fast väterlichen Zuneigung tritt beim Heidereiter ein tief wur­zelndes Gefühl, das sich keinen Bedingungen mehr unterwirft:Von Stund' an aber wäre er jeden Augenblick für sie gestorben." Das Verhältnis zwischen ihm und Hilde hat durch deren überraschendes Hervortreten eine neue Qualität ge­wonnen. Es handelt sich nicht länger mehr um Autorität und Gehorsam, um erzieherische Macht einerseits und kindliche Unterwerfung andererseits, son­dern um das gleichberechtigte Nebeneinander zweier Menschen.

In der verklärten Gesellschaftswelt von Goethes Novelle steht am Anfang die freimütige und heiter-unverkrampfte Erklärung von Hilariens Liebe durch ihre Mutter. Eine solche Erklärung gibt es bei Fontane nicht. Und zwar nicht nur deshalb nicht, weil Hilde noch ein Kind ist, sondern weil der Dichter überhaupt Bedenken trägt, das Mädchen mit einer solchen Gefühlsäußerung zu belasten. Wenn bei ihm die Initiative einmal von der Frau ausgeht wie inFrau Jenny Treibel" von Corinna Schmidt, die den hilflosen Leopold Treibel zum Spielball ihres listenreichen Werbens macht, so ist das eine Grenzüberschreitung, fast ein Frevel, der nicht von Erfolg gekrönt werden darf. Wenn Hilde den Heide­reiter küßt, weil sie mit ihm leidet, so tut sie das in der Unschuld ihres kindli­chen Herzens, und sie ahnt dabei nicht, welche Leidenschaft sie auslöst.

Man sieht, es liegen Welten zwischen dem (letztlich durch Hilarie veranlaßten) Liebesgeständnis des Majors und dem durch Hilde verursachten Durchbruch einer leidenschaftlichen Zuneigung bei Baltzer Bocholt. Aber während Goethe an den möglichen Ausgleich glaubt oder aber in jedem Fall diesen Ausgleich will, weil er an die heilende Kraft der Zeit und an die Kraft von Vernunft und Ein­sicht glaubt und den tragischen Untergang (wie er noch in denWahlverwandt­schaften" gestaltet ist) vermeiden will, sieht Fontane den Menschen ohne die schöne Freiheit des Geistes und ohne die Möglichkeit der Selbstbefreiung aus der selbstverschuldeten Verstrickung.

Daß Hilde sich für Martin entscheidet wie Hilarie für Flavio, schafft Raum für natürliche Verhältnisse. Goethe läßt den Major die Kraft finden zu entsagen, u nd Hilarie lernt, sich zu ihrer neuen Neigung zu bekennen. Ganz anders Fon­tane. Er treibt den Heidereiter mit unerbittlicher Konsequenz in Verbrechen und Tod. Man darf dabei nicht übersehen, daß Baltzer Bocholt nicht unfähig ist zur

71