Heft 
(1991) 51
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Reflexion. Es ist also nicht der Unterschied zwischen heller Geistigkeit und pri­mitiver Dumpfheit, der hier erkennbar wird. Der Heidereiter bleibt sich seiner unheilvollen Lage durchaus bewußt und vermag sich auch noch in den Augen­blicken größter innerer Not zu artikulieren. Gestaltet wird, wie der Mensch als Opfer höherer Mächte, deren Wirken er ahnt (es hat mich behext"), fällt. Hilarie und Hilde freilich überleben. Von Hilaries Schicksal erfahren wir wenig, und Hilde ist kein Mensch, der zu Glück und Liebe bestimmt wäre. Nach einer kur­zen Zeit hingebungsvollen Lebens für andere stirbt sie. Wie sie stirbt und daß sie gern stirbt, offenbart, daß sie zwar mit ihrem Schicksal versöhnt ist, ihren frühen Tod aber doch als folgerichtigen Abschluß eines ebenso schweren wie verfehlten Lebens ansieht.

Ein letzter Blick auf Goethe sei gestattet. So wie Baltzer Bocholt ein Mann von fünfzig Jahren ist, so ist Hilde einenatürliche Tochter'.

Gibt es Zusammenhänge? Man mag auch hier geneigt sein anzunehmen, daß Fontane das Unnatürliche an der natürlichen Tochter richtigstellen wollte. Es wird ihm schon schwergefallen sein, die (von Goethe der Quelle entnommene) Elternschaft zweier Aristokraten als Ausgangspunkt des Stückes hinzunehmen. Seiner Erfahrung nach stammten natürliche Töchter meist aus Verbindungen ge­sellschaftlich ungleicher Partner, und ihr Schicksal gestaltete sich viel eher nach dem Muster Hildes als dem Eugeniens. Die hochgestellten Familien verleug­neten (wie die Gräfin in ,Ellernklipp') ihre natürlichen Kinder und zogen sich mit Abfindungen aus der Affäre. Aber noch in einem anderen Punkt dürfte Fontane Goethe einen zu unrealistischen Ansatz unterstellt haben. Eugenie, am Ende überzeugt, daß ihr Vaterland ihrer noch bedürfen werde, reicht dem Gerichtsrat ihre Hand, um der Verbannung zu entgehen. Aber sie stellt eine Bedingung: der sie Liebende darf ihr nur begegnen wie ein Bruder seiner Schwester:

Vermagst du zu versprechen, mich als Bruder Mit reiner Neigung zu empfangen? mir,

Der liebevollen Schwester, Schutz und Rat Und stille Lebensfreude zu gewähren?'

In seiner ebenso gründlichen wie umsichtigen StudieDas .Menschliche' im .Alltäglichen" (Theodor Fontanes Literaturtheorie in ihrer Beziehung zur klas­sischen Ästhetik und seine Rezeption der Dichtungen Goethes und Schillers. - Frankfurt, Bern, New York, 1985) hat Wolfgang Jung untersucht, inwieweit die Marginalien, mit denen Fontane seine Goethe-Ausgabe versah, Aufschluß geben über das Zustandekommen seines Urteils überDie natürliche Tochter". E s zeigt sich dabei selbstverständlich, daß Fontane einzelne Schönheiten des Goe- theschen Textes (vor allem hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung) durchaus zu würdigen wußte:Im Detail ist es wundeischön. Die ganze Fülle Goethe'scher Weisheit erschließt sich einem in einer klassischen Sprache." (a. a. O. S. 210) Fontanes Haupteinwände gelten dem Schluß des Dramas, was Jung gebührend hervorhebt (wobei dies alles im Zeichen des Eingeständnisses Fontanes gesehen

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