werden muß, daß er von Goethewissenschaftlichkeit keine Ahnung hatte, wie denn nichts darauf hindeutet, daß er gewußt hat, daß es sich bei dem Drama um den Anfang einer Trilogie handelte, die die Französische Revolution zum Thema haben sollte). Daß es auf Seiten Fontanes Mißverständnisse gab, kann unerörtert bleiben. Wenn er aber den Gerichtsrat, der bereit ist, Eugenie unter den von ihr gestellten Bedingungen zu heiraten (Bruder-Schwester), „ eine Art Ehren-Schafskopf" nennt, der „ eine unglaublich traurige Rolle" spielt (a. a. O., S. 211), so spürt man seine persönliche Erbitterung darüber durch, daß dieser Mann sich den Bedingungen der Prinzessin fügt, die ihn (wie Fontane vermutet) nur als Mittel zu ihren Zwecken mißbrauchen will. Wahrhaft erheiternd ist zu sehen, wie persönlich sich Fontane durch diesen Schluß betroffen fühlte, so daß er schließlich in einem Ausruf am Schluß des Dramas, die ästhetische Ebene aller seiner Marginalien verlassend, seiner Empörung Luft macht: „ Ich hätte sie nicht genommen." (a. a. O., S. 210) Nun, er hatte Glück, das Problem stellte sich ihm nicht. Aber dieser Betroffenheitsausbruch offenbart doch, wie ganz und gar unnatürlich sich ihm das Ende des Dramas darstellte, wenn er sich als Person in die vermeintlich dürftige Schlußlösung einbringt. Diese Unnatur verstellte ihm den Blick auf das von Goethe Gemeinte und Gewollte. Aber es reizt ihn auch zum produktiven Widerspruch. Was Eugenie hier verlangt, entspricht der Vorstellung, die Baltzer Bocholt vom Zusammenleben von Hilde und Martin hat. Daß sie als Geschwister einander lieben sollten, geht als Motiv durch die ganze Erzählung. Fontane konnte diesem Gedanken nichts abgewinnen. Ihm ist zu vertraut, was bei räumlicher Nähe (die Eugenie freilich zu hintertreiben sucht) und den dort wachsenden starken Gefühlen sich normalerweise ergibt. Aus scheinbarer Geschwisterschaft entsteht Liebe, und Liebe drängt zur Vereinigung, sei es auf Kunerts-Kamp oder wo auch immer. Sie ist die natürliche Konsequenz, und es ist sehr wahrscheinlich, daß Fontane mit einem sardonischen Lächeln auf Eugeniens Forderung geblickt hat. Ein Gewinn an Verständnis für „Die natürliche Tochter" ist aus Fontanes Äußerungen nicht zu erwarten. Er war kein Goethe-Philologe, und unmittelbar anrüh- r ende Kraft besaß das Stück für ihn nicht. Es war ihm ganz einfach langweilig. Und damit stand er nicht allein. Er schloß sich einer Meinung an, der schon Madame de Stael Ausdruck verliehen hatte. Sie charakterisierte das Drama mit den Worten: „un noble ennui."
Eine bedenkliche Feststellung. Zudem erinnert sie daran, daß Fontane seine Erzählung ja offensichtlich geschrieben hat, um Goethe zu übertreffen. Man wird die Frage stellen müssen, ob er sein Ziel erreicht hat; was in diesem Falle nur heißen kann, ob es ihm gelungen ist, jene Langeweile zu vermeiden, die ihn bei der Lektüre von Goethes Drama (und auch sonst bei der Beschäftigung mit Goethe) befiel. Die Antwort der Leser Fontanes ist eindeutig. Es gibt kein anderes Prosawerk Fontanes, das von 1878 bis heute auf so wenig Resonanz gestoßen ist. Soweit Fontanes Werke in Auswahl herausgegeben worden sind, f e hlt „Ellernklipp". Das Urteil der Leser scheint einhellig zu sein. Ganz sicher ha t Fontane die Absicht verfolgt, eine psychologisch interessante und spannende Mordgeschichte zu schreiben. Er hat sein Ziel nicht erreicht. Wo liegen die
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