Kräfte zu wecken und zu vereinen. Als die partikulare militärische Aktion der im Raum Lebus (Oderbruch) vereinigten Kräfte aus dem Adel und der Bauernschaft, unter tatkräftiger Mithilfe junger Intellektueller, losbricht und (im 4. Buch) scheitert, sind mehr als dreiviertel des Erzählvorganges bewältigt. Vor dem Sturm ist nicht der Sturm der tatsächlichen Befreiungstat des Jahres 1813, die widersprüchlich genug verlief. Gesamtnationale oder gar soziale Aspekte der Befreiung deutscher Territorien bilden nicht das Thema dieses Romans. Seine Spezifik erwächst zwar aus dem historischen Handlungsrahmen von ,1812 auf 13', benutzt aber diesen und die Figuren des Königs, Hardenbergs oder der Brüder von der Marwitz wie ein Zitat, dessen Inhalt jedermann kennt. .Der König rief und alle kamen' (Clausen) - diese Version wird nicht bedient. Fontane baut insofern an einem Gegenbild zur vorherrschenden Geschichtsschreibung. Aber er dokumentiert dies nicht, er verlagert die geschicht- lichen Aktionen ,vor dem Sturm' ins Innere der Figuren, er zielt auf Besinnung und Analogie. »Arbeit und Inhalt meines Lebens" 1 wird er seine Roman-Konfession schließlich nennen, sein „Schmerzenskind', von dem er zwei Jahre hinzu schrieb: „Er ist in dieser für mich trostlosen Zeit mein einziges Glück, meine einzige Erholung". 2 Denkt man die für den Schriftsteller Fontane besonders ereignisreichen, aber auch produktiven Erfahrungen der siebziger Jahre hinzu, die ihn schließlich zur Aufgabe seines Konzepts vom „vaterländischen Dichter bewegen, so rücken Gestalt und Gestaltung eines preußisch-patriotischen Mythos in den Vordergrund, auf den er selbst sich innerhalb weniger Wochen und gegenüber unterschiedlichen Partnern durchaus unterschiedlich bezog; heißt es einmal, der Roman „ist ganz unmodern, etwas fromm, und etwas kirchlich, immer wird gepredigt [...]. Dazu literarische Gespräche und dann und wann eine Eruption im Stil von ,Mit Gott für König und Vaterland " 3, so beharrte er gleich zeitig darauf, daß das Buch zwar für „Religion, Sitte, Vaterland' einträte, aber daß es „voll Haß' gegen die „blaue Kornblume' (eine unkritische Hohenzollern- verehrung) sei; „Mit Gott für König und Vaterland', will sagen gegen die Phrasenhaftigkeit und die Carikatur jener Dreiheit". 4 So ergibt sich ein Widerspruch: Für und gegen die Losung des reaktionären Junkerparlaments, 5 für und gegen die Stiftungslegende des neuen Reiches will er eintreten.
Mehr als hundert Jahre trennen uns von den Umständen, die solche Ansichten hervorbrachten; „Preußen" ist mit seinen Trägern untergegangen, nachdem es seine Mythen bis zur faschistischen Demagogie pervertierte. 6 Kann uns Theodor Fontane, 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, bei der kritischen Besinnung auf unsere Vorgeschichte anregen? Ein historisch entstandener Beitrag erzählen - der Art gerät in die Diskussion. Zeitgenössische Breitenwirkung war ihm beschieden (was noch belegt wird). Kann er uns mehr bedeuten?
Wer mit Fontanes Helden Berlin verläßt und über die Bollersdorfer Höhe i n s Oderbruch fährt, wird von einer doppelten Faszination berührt. Man fährt heute durch einen fruchtbaren Landstrich und begegnet zugleich unübersehbaren Zeu- gen der Vergangenheit, die für Zerstörung stehen. In das fruchtbare Land de r „Patriarchen' glaubte auch der märkische Wanderer des Jahres 1860 schaue n zu können, wenn er von den Seelower Höhen hinab in das unter den preußische n
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