Heft 
(1991) 51
Seite
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der Eigenarten und Widersprüche, vom Prozeß der Aufnahme durch die Zeit- genossen her, der unsere Ansichten nicht bestätigen muß, aber bereichern kann, und (alle Seiten durchdringend) vom Prozeß der Arbeit am Text her, der die Biographie des Dichters und die Umstände seiner Entwicklung (ein nicht zu bewältigendes Thema) einschließt.

Geschichte und Dichtung. Vorversuche

Wenn wir Weihnachten 1812 mit dem jungen Lewin von Vitzewitz und dem alten Kutscher Krist nahe der Berliner Parochialkirche in der Klosterstraße den Schlitten besteigen, um in nächtlicher Fahrt über die Bollersdorfer Höhe dem heimatlich-familiären Schloß- und Gutsbesitz an der Oder zuzufahren, betre- ten wir abermals eine verwandelte Landschaft. Nicht nur die Brüder Marwitz, die Schloßherren, haben sich in Vater und Sohn verwandelt. Die Härte der gutsherrlichen Kämpfe um Privilegien für die Stände im Raum Lebus, die kon- servative Kritik am zaudernden König Friedrich Wilhelm III., die mit Festungs- haft verbunden war, hat sich verflüchtigt, ohne je ganz verschwunden zu sein, Der Erzählton dieser ältesten Passagen des Manuskripts (mit Bleistift auf festem Papier) sucht Landschaft und Stimmungen einzufangen, ist beschaulich angelegt, und gelegentlich (wie in den harmonisierenden Passagen am Schluß) kommt sogar einePrinzessin ins Haus". Ganz anders, dramatisch zugespitzt, mit der funkelnden Schärfe des Dialogs geschrieben, sind jene von Fontane im Brief an Hertz vom 1. Dezember 1878 15 selbst hervorgehobenen Gesprächs passagen, die die pointierten Weltanschauungsgespräche der späteren Romane vorwegnehmen (I, 4; II, 13 f.; III, 1; IV, 24-27).Es ist ein königliches Land, dieses Preußen, und königlich, so Gott will, soll es bleiben. Es haben es große Fürsten aufgebaut, und der Treue der Fürsten hat die Treue des Volkes ent- sprochen. Ein Volk folgt immer, wo zu folgen ist; es hat dem unseren an freu- digem Gehorsam nie gefehlt. Aber es ist fluchwürdig, den toten Gehorsam zu eines Volkes höchster Tugend stempeln zu wollen. Unser Höchstes ist Frei hei t und Liebe." (II, 96) Das ist brillante Polemik mit zeitgeschichtlichem Bezug.

E s sind dies also mehr als zwei Romane in einem, und die tagebuchartigen Schlußbetrachtungen der Renate von Vitzewitz bilden eine betrachtende Klam- mer für die vielfach veränderten und gestaffelten Sujetlinien, kennzeichnen die be absichtigte Grundhaltung.Erzählungen schließen mit Verlobung oder Höch zeit. Aber ein Tagebuch, das sich bis auf diesen Tag im Hohen-Vietzer Herren- haus vorfindet (...), gönnt uns noch einen Blick in die weitere Zukunft." (IV, 23) Fiktion und Realität bedienen einander, der Erzähler bietet eine Parabel. Vordergründig einSittenbild", nur im Schlußteil aktionsbetonterDurchschlä- ger" (wie Redakteur König aus Leipzig betont) 16 , politischer Dialog mit unve kennbar neuen, nach 1874 geschriebenenMachthaber"-Passagen, die den Tage- buch-Eintragungen des Jahres 1876 entsprechen, wo vontotal konfuser Staats- mas chinerie" die Rede ist.1 7 Dorfkultur (bei Pastoren und Altertumsforschern) und die brodelnde Unruhe der Berliner Salons und Hörsäle, freilich in beschau- lic her Kastalia-Retrospektive, die demRütli" nachempfunden ist, mit Studen

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