„Februar 1813" hervor und verweist uns erneut auf seine zentrale Konflikt- Struktur, die er zwischen Vater und Sohn, Othegraven und Kniehase, aber auch in den Debatten zwischen von Meerheimb und von Hirschfeldt (»spanische Kriegführung") ausgeführt hat. Es geht auf allen Ebenen der Gesamterzählung um Rechte und Pflichten, um Treue und Untreue zwischen König und Volk, zwischen Gutsherr und Dorfschulzen, um Schein und Lüge zwischen Tubal und Renate, zwischen Marie und Lewin, um öffentliche Verantwortung und private Entscheidungsrechte. Diese Debatte beherrscht die Gespräche auf dem Land und in der Stadt. Was den Zeitgenossen als Mangel an Geschlossenheit und als zu große Breite erschien, erlaubt in beiden Bereichen, der erzählten Geschichte und der Geschichtlichkeit des Erzählten, bis heute Entdeckungen, die Heinrich Mann in die Worte kleidete:
Der moderne Roman wurde für Deutschland erfunden, verwirklicht, auch gleich vollendet von einem Preußen, Mitglied der französischen Kolonie, Theodor Fontane. Als erster hier hat er wahrgemacht, daß ein Roman das gültige, bleibende Dokument einer Gesellschaft, eines Zeitalters sein kann; daß er soziale Kenntnis gestalten und vermitteln, Leben und Gegenwart bewahren kann noch in einer sehr veränderten Zukunft, wo, sagen wir, das Berlin von einst nicht mehr besteht. (...) Den Befreiungskrieg hat man gesehen, wenn man Vor dem Sturm las. Von innen gesehen hat man ihn nur dann. 23
Man muß dem nicht unbesehen folgen, und insgesamt zielt Mann stärker auf die Berliner Romane als auf Vor dem Sturm. Dennoch ist seine Wertschätzung der Menschengestaltung und des Lokalkolorits unübersehbar. Ehe wir uns diesem Aspekt zuwenden, soll festgehalten sein, daß schon im historischen Vor- feld des vollständigen Sieges der Bismarck-Politik über das Gros der bürgerlich-liberalen Opposition Fontane die endgültige Konfliktanlage seines Romans zum Stoff der Befreiungskriege auf die Zeit Vor dem Sturm festlegt. Wenn die Kommentatoren der Hanser-Ausgabe meinen, Fontane habe den Aufruf des Königs vom März 1813 offenbar vorverlegt (wörtlich: „verwechselt"), erliegen sie nicht allein einem philologischen Irrtum. 24 Nicht Schill, aber ein Schillianer, nicht Marwitz, sondern Georg Baersch bewirkte eine Art zweiter Initialzündung, die das Thema der Befreiung von unten einengte (insofern die Volkskräfte nur zeitweilig ohne König handelten), aber auch ausweitete (insofern der Herr von Vitzewitz im Selbstgespräch in die Kritik seines Verhaltens einbezogen werden konnte). Der ihn motivierende Franzosenhaß (Napoleon als „Regicide" in I, Kap. 4) wurde zum Baustein unter anderen, blieb bestimmend für die Anlage dieser Figur, nicht aber ausschlaggebend für das Ganze. Mochte Fontane das Ganze noch mehrfach straffen (selbst in I, Kap. 4 die Feile der Differenzierung zwischen Volk und Kaiser ansetzen, wie dies die Handschrift zeigt), als er das französische Volk näher kennengelernt hatte - der „Vielheitsroman" wurde zur unterschiedlich bewältigten Lösung für seinen Umgang mit der Geschichte. Geschichtsroman und Familienroman bilden eine für ihren Verfasser kennzeichnende Einheit, ohne daß die geschichtlichen Motive der Erhebung erzählerisch einheitlich verankert sind.
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