Es lohnt sich, ein Kapitel wie „Hohenvietz" (I, Kap. 2) besonders aufmerksam zu lesen. Wie am Schluß des Romans lädt uns der allwissende Erzähler ein, die Geschichte eines Askanier-Schlosses anzuhören, aus der erst allmählich das Profil des in der Gegenwart agierenden Helden erwächst. Mit Sicherheit beginnt so auch der wandernde Berichterstatter, und trotz aller später stärker aufeinander bezogenen Figurenprofile wird der Bericht noch nicht durchgängig zur Erzählung, hinter die der Autor vollständig zurückträte. 25 Der Schloßherr wie die nicht ebenbürtige Marie Kniehase sind in diesem Sinne „gesetzte Figuren", durch eine bestimmende Eigenschaft determiniert. Sie wandeln sich nicht, obwohl sie Bewährungen ausgesetzt werden. Ihre „Rollen" sind festgeschrieben. Trotz heftiger innerer Bewegung der Figuren bewegen diese nicht eigentlich die Geschichte. Marie Kniehase wird es im Bilde vom Lübecker Totentanz erläutern (vgl. I, Kap. 10), worauf zurückzukommen ist.
Erzählhaltung und Konfliktstruktur im Wandel
Im Sinne seiner vielgestaltigen Einheit ist Fontanes Roman selbst ein Diskussionsbeitrag; die Geschichte wird eher besichtigt, das Verhalten der Protagonisten eher erörtert, als daß sie das Geschehen bestimmen. Selbst die zweifellos aktivste Figur, Schloßherr Berndt von Vitzewitz (darin seinem Urbild von der Marwitz ebenso verwandt wie Schill oder Baersch), muß sich gefallen lassen, daß die Motive und damit sein Eingreifen in den großen Gang der Dinge in Frage gestellt werden. Im Blick auf die glückliche Lösung des Familienromans (anläßlich des Verlöbnisses von Lewin und Marie) läßt uns der Erzähler wissen: „Denn es war nur gekommen, was kommen sollte; das Natürliche, das von Uranfang an Bestimmte hatte sich vollzogen" (IV, 193).
Der soziale Kontext, der später Fontanes Berliner Frauenschicksale auf so lebendige Weise anreichert, ist hier in die Debatte verwiesen (etwa in IV, Kap. 27), wenn zwischen Berndt und Bamme über die Ahnenreihe und das Gesinnungsprofil reflektiert wird. Auf den Gang der Ereignisse hat dies keinen Einfluß.
Nun war aber Fontane um möglichst viel historischen Kontext bemüht, um „das große Fühlen" verständlich zu machen, das ihm so wichtig war. Mit dem Einblick in die Grobstruktur des Werkes ist nur der Rahmen, schließlich aber doch zu wenig gewonnen, um das schillernde Panorama der Figuren, das „Sittenbild- liche", die gesamte Aura der Gesinnungen zu erfassen, um die es geht. Von Anfang an ist es eine historische Landschaft, die da bevölkert wird. Wir hören von einer bis zuletzt nicht endenden Bemühung Fontanes, dem großen Thema and seinen Protagonisten die Welt der kleinen Leute an die Seite zu stellen. Noch wenige Wochen vor dem Abschluß der Riesenarbeit bittet er Holtze, ihm "H, Bauer's Denkschrift über die Erschießung des Kämmerers Schulz in Kyritz" zur Verfügung zu stellen. 26 So ging es mit Anekdoten und Memoiren, und die Briefe von Zeitgenossen standen obenan. Vater Henry Louis in Letschin muß hinzugedacht werden; die Gräfin Schwerin und Mathilde von Rohr, ein Buch von George, die Spenersche Zeitung und, nicht zuletzt, die eigenen Recherchen für die Wanderungsaufsätze. 27 Die Bezüge sind gesucht: das Glockenspiel der
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