auch wenn dies »mehr in eine politische als ästhetische Kontroverse" führe. Noch ist auch ihm „unbestritten" das Bürgertum »die sicherste Stütze des Staates' (1855), freilich folgen Einwände, die in der zitierten »Begrenzheit" des Bürgertums ihren markantesten Ausdruck finden. Die Frage gewinnt für Vor dem Sturm generelle Bedeutung: Der Bürger des ausgehenden Mittelalters als Gegenbild zum Bourgeois der Gegenwart? 36 Enden hier die Analogien der Diskussion über 1813, oder gewinnt Fontane durch den bereits skizzierten Zuschnitt des Entscheidungsmotivs eine Basis, die die liberale Opposition in die Kritik einschließt? Mit Blick auf den Roman sei noch einmal auf die Streichung der Chrysander-Passagen verwiesen - zum anderen soll eine Episode um den Volkswirt und Politiker Julius Faucher herangezogen werden, die nicht nur in die Entstehungszeit des Romans fällt (1861, 1866 notiert) und mit politischer Amnestie, Parlamentsreden und Bismarcks Kanzlerschaft korrespondiert, sondern dazu geführt hat, daß Fontane in einem frühen, »Material" genannten Entwurf, die Figure Fauchers zum Typus erhoben hat, wie er das dann später, in Von Zwanzig bis Dreißig näher ausführte. „In der Stadt (Berlin) ein Bürgerhaus in der Brüderstraße .. . Die eingeführten Gäste: der blasse, hagere, häßliche Comptoirist (der Begeisterungsmensch), andere Figuren á la Faucher, Maron etc. Schill, Erzherzog Karl, Fichte, Schleiermacher — die Helden des Tages, „Figuren á la Faucher" - das ist nicht der Faucher seiner jugendlichen Revolutionsbegeisterung. Im selben (noch unveröffentlichten) Notizbuch A12 ist zu lesen, er habe Faucher 1845 bei Maron kennengelernt. In England hatten sie sich wiedergesehen, nach der Amnestie habe Faucher in Delitzsch (1862) für die Fortschrittspartei kandidiert und sei gewählt worden. (Daß Fontane selbst in Berlin 1862 für die Konservativen kandidierte, hat er verschwiegen.)
Hier geht es um mehr als Zeitgeschichte und Literatur, um einen in den Augen Fontanes bürgerlichenTypus, die er, wie andere Passagen auch, schließlich nicht verwendet, sondern fallen läßt. Fontane notiert 1862, Faucher habe von seinen »Triumphen" erzählt, und (wie später im Memoirenbuch erneut hervorgehoben wird) als Charakteristikum prägt sich ihm ein Satz Fauchers ein: »Jetzt muß Geld und Geschichte gemacht werden." Fontane kommentiert: „In dem Salz stecken seine zwei Hauptfehler drin: Eitelkeit und Gelddurst." Im gleichen Notizbuch - A 12 - findet sich ein Zeitungsausschnitt mit der Passage: „Da s Haus der Abgeordneten verscherzt durch seine unpraktische Politik die Freundschaft des Publikums. Die Kreuzzeitung führte neulich einen Ausspruch ... über unser Abgeordnetenhaus an, der unsere Volksvertreter mit dem Namen petty foggers beehrt hatte." Das englische Wort „to fog" wird mit „fauchen übersetzt, und beziehungsreich sind demnach parlamentarische Faucher Leute „die knallen, nachdem Kanonen bereits das letzte Urteil gesprochen" haben.
Das Bürgertum als gesellschaftliche Größe, als „unbestritten sicherste Stütze des Staates" und als »Träger aller Kultur und allen Fortschritts" geriet so sehr in den Hintergrund, daß darin ein wesentlicher Grund gesehen werden darf, warum der Roman zwar nicht in den Augen der Kreuzzeitung, aber wohl der Mehrzahl der Rezensenten schon damals als Anachronismus empfunden werden konnte. Fontane wehrte sich auch dagegen, daß er die Wanderungen vom Stand-
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