Man kann die Zäsur, die nach Vor dem Sturm liegt, nicht umfassend genug untersuchen. Alle Bereiche seiner Existenz waren betroffen, Fontane selbst ist verunsichert: »Ich schriebe gern einen zweiten (Roman], der, in Bücher und Kapitel eingetheilt, und in seinen Scenen und Personen skizzirt, längst vor mir liegt. Aber unsre deutschen Buchhändler-, Verkaufs- und Lese-Zustände lassen es mir leider fraglich erscheinen, ob ich je zur Ausarbeitung kommen werde." 49 Das Wort .Krise' ist angemessen: „Meine Situation ist in der That eine kritische." 50 Immer öfter betont er seine Differenz zur Erwartung des großen Publikums. 51 Von hier aus führt der Weg zu umfassender Neuorientierung. Vom „ächten Conservatismus" ist (schon in Schach von Wuthenow) nur noch wenig zu spüren. Das Dilemma einer Positionssuche zwischen den Klassen freilich war nicht beendet, ist allerdings weit mehr der preußisch-deutschen Geschichte im . 19. Jahrhundert als der Unentschiedenheit Fontanes geschuldet. Noch im Stechlin, allerdings von neuer demokratischer Position aus, bleibt „ächter" Adel der Gesinnung an einen Schloßherren gebunden. Freilich hat sich dann die historische Aktion von 1813 vollständig ins Gespräch verflüchtigt. 51a
Die Kritik der Verhältnisse im Entwurf einer preußisch-brandenburgischen Insurrektion „der Gesinnung" hat ihre Tücken bis heute. Auch für uns sind die hier behandelten Seiten der Romankonzeption in das generelle kunststiftende Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit verwoben. Die Othegraven-Figur, Resultante so vielfältiger Veränderungen des Marwitz-Stoffes, war im Grunde schon vorgedacht, als er die noch im hohen Alter (1893) weiterempfohlene Biographie Droysens las: 1813 sei die nationale Chance (beinahe wie 1806) von den Hohenzollern verspielt worden. Daß Preußens Beruf verfehlt werde, wenn die Krone nicht gesamtstaatliche Belange wahrnähme, konnte zeitweilig liberale und konservative Illustionen befördern - zumal Droysen in seiner Darstellung Yorks nicht nur das königliche Mißtrauen gegenüber dem Volke, sondern auch schon das Bewußtsein einer „höheren Treue", das den Ungehorsam gegenüber der Krone verantworten zu können glaubt, hervorhebt. 52
Nimmt man die Doppelmotivierung der Figuren, ihre Anlage als Standesvertreter, ihre Bestimmung aus nobler Gesinnung (Lukács spricht von „gebrochenen" Charakteren 53 ), so möchte man vor dem Hintergrund des realen Geschichtsablaufs im imperialistischen Deutschland, des Sturzes der Monarchie (1919) und des Überganges in die Barbarei des Zweiten Weltkrieges auch die Fontanesche Wunsch-Wirklichkeit, jenen Mythos vom besseren Deutschland, unter Berufung auf preußische Tugend und Tradition, zu den Akten legen.
Aber erstens haben noch im Zweiten Weltkrieg deutsche Offiziere mit dem Konflikt gerungen, den ihnen der Fahneneid auferlegte, und zweitens ist noch Jüngst die Frage gestellt worden, ob die preußisch-deutsche Tugend der Einord- nu ng nicht eine positive Funktion beim Aufbau sozialer Gemeinwesen ausüben könnte.5 4
Fontanes Beitrag zu dieser Debatte ist sehr viel spezieller, begrenzter und doch e ntscheidendes Experiment für die Gestaltung des Verhältnisses von Individuum Un d Gesellschaft. Marie Kniehase, die zweite „Lichtgestalt" (Reuter) dieses Ro-
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