Christian Grawe, Melbourne
.Es schlug gerade ..:
Zur Gestaltung eines Zeitelements in Fontanes Romanen
In dem beliebtesten Roman Fontanes, EFFI BRIEST, wird die Welt der Laute und Geräusche zu einem tragenden Element bei der Charakterisierung der Titelgestalt. Effi ist ohne ihre auditive Empfindsamkeit nicht zu deuten. Der zum Verständnis ihrer Eheproblematik zentrale Spuk des Chinesen etwa ist ja außer in der bewußt kindlich-banalen Form eines Abziehbildes nie sichtbar. Seine suggestive Wirkung beruht ausschließlich auf geheimnisvollen Geräuschen, die gerade durch ihre Ungreifbarkeit so beunruhigend wirken. Geräusche sind es auch, die Effi aus den Beschränkungen der Gesellschaft und ihrer schuldbewußten Lage wiederholt in eine andere diesseitige oder jenseitige Welt rufen. Am eindringlichsten wirkt ein solches Ensemble von fernen Stimmen in der Natur auf sie, als sie am Abend vor ihrem dritten Hochzeitstag bei ihrem schuldbewußten Selbstgespräch am offenen Fenster des elterlichen Hauses in Hohen-Cremen „eine(em) leise(n), feine(n) Ton, wie wenn es regnete [.,.] von den Platanen her" und dem „Rasseln des Zuges, der, auf eine halbe Meile 1 Entfernung, an Hohen-Cremmen vorüberfuhr" (EB 219 f.), 2 lauscht. Schon unmittelbar vorher hört sie „die Turmuhr drüben" schlagen,
„[...] und Effi zählt die Schläge. Zehn (...] Und morgen um diese
Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, daß unser Hochzeitstag
sei, und er sagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zärtliches.
Und ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele."
(EB 218 f.)
Effis Betroffensein von Geräuschen ist es, das dem Leser und, wie ihre Reaktion zeigt, auch ihr selbst, ihre seelische Lage vermittelt.
»Örtlichkeit und Schauplatz", 3 Landschaft 4 und Ambiente in Fontanes Romanen, also das szenische Arrangement der visuellen Welt, die das Leben und die Entscheidungen der sich darin bewegenden Gestalten beeinflußt oder auf symbolische Weise reflektiert, ist in der Forschung wiederholt und eindringlich erörtert worden. Aber die sinnenhaft erfahrbare Welt besteht bei Fontane keineswegs nur aus dem Visuellen. Seine Romanwelt ist vielmehr, wie das Beispiel aus EFFI BRIEST belegt, auch voller Laute, Geräusche, Töne und Stimmen. Nur hat die Verarbeitung von Gehörsei ndrücken viel weniger Aufmerksamkeit gefunden. Dabei verdient ihre Verwendung ebenfalls die genauere Beachtung der Leser, weil auch sie auf höchst unterschiedliche Weise zum Deutungszusammenhang der Romane beiträgt. In den folgenden Ausführungen soll allerdings dieses Thema nicht insgesamt untersucht werden; vielmehr soll ein einziges Lautelement ins Auge gefaßt werden, das das Szenische mit der Zeitgestaltung verbindet.
Auch dieser Aspekt der sinnenhaften Welt ist bei Fontane auf die Menschen bezogen und dient in seiner durch und durch anthropozentrischen Romanwelt
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