Heft 
(1991) 51
Seite
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Christian Grawe, Melbourne

.Es schlug gerade ..:

Zur Gestaltung eines Zeitelements in Fontanes Romanen

In dem beliebtesten Roman Fontanes, EFFI BRIEST, wird die Welt der Laute und Geräusche zu einem tragenden Element bei der Charakterisierung der Titel­gestalt. Effi ist ohne ihre auditive Empfindsamkeit nicht zu deuten. Der zum Verständnis ihrer Eheproblematik zentrale Spuk des Chinesen etwa ist ja außer in der bewußt kindlich-banalen Form eines Abziehbildes nie sichtbar. Seine suggestive Wirkung beruht ausschließlich auf geheimnisvollen Geräuschen, die gerade durch ihre Ungreifbarkeit so beunruhigend wirken. Geräusche sind es auch, die Effi aus den Beschränkungen der Gesellschaft und ihrer schuldbe­wußten Lage wiederholt in eine andere diesseitige oder jenseitige Welt rufen. Am eindringlichsten wirkt ein solches Ensemble von fernen Stimmen in der Natur auf sie, als sie am Abend vor ihrem dritten Hochzeitstag bei ihrem schuldbewußten Selbstgespräch am offenen Fenster des elterlichen Hauses in Hohen-Cremeneine(em) leise(n), feine(n) Ton, wie wenn es regnete [.,.] von den Platanen her" und demRasseln des Zuges, der, auf eine halbe Meile 1 Entfernung, an Hohen-Cremmen vorüberfuhr" (EB 219 f.), 2 lauscht. Schon un­mittelbar vorher hört siedie Turmuhr drüben" schlagen,

[...] und Effi zählt die Schläge. Zehn (...] Und morgen um diese

Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, daß unser Hochzeitstag

sei, und er sagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zärtliches.

Und ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele."

(EB 218 f.)

Effis Betroffensein von Geräuschen ist es, das dem Leser und, wie ihre Reak­tion zeigt, auch ihr selbst, ihre seelische Lage vermittelt.

»Örtlichkeit und Schauplatz", 3 Landschaft 4 und Ambiente in Fontanes Romanen, also das szenische Arrangement der visuellen Welt, die das Leben und die Ent­scheidungen der sich darin bewegenden Gestalten beeinflußt oder auf symboli­sche Weise reflektiert, ist in der Forschung wiederholt und eindringlich erör­tert worden. Aber die sinnenhaft erfahrbare Welt besteht bei Fontane keines­wegs nur aus dem Visuellen. Seine Romanwelt ist vielmehr, wie das Beispiel aus EFFI BRIEST belegt, auch voller Laute, Geräusche, Töne und Stimmen. Nur hat die Verarbeitung von Gehörsei ndrücken viel weniger Aufmerksamkeit ge­funden. Dabei verdient ihre Verwendung ebenfalls die genauere Beachtung der Leser, weil auch sie auf höchst unterschiedliche Weise zum Deutungszusammen­hang der Romane beiträgt. In den folgenden Ausführungen soll allerdings die­ses Thema nicht insgesamt untersucht werden; vielmehr soll ein einziges Laut­element ins Auge gefaßt werden, das das Szenische mit der Zeitgestaltung ver­bindet.

Auch dieser Aspekt der sinnenhaften Welt ist bei Fontane auf die Menschen bezogen und dient in seiner durch und durch anthropozentrischen Romanwelt

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