Das Anzeigen der Stunde - es muß sich nach der Verzahnung von Treibels Diner und Schmidts Professorenabend um zehn Uhr handeln - ist hier nur der Auslöser für die thematische Verknüpfung des Glockenspiels mit der Unterhaltung des verkrachten Paares. Das in den folgenden Zeilen fünfmal beschworene »Üb immer Treu und Redlichkeit' wird zur Waffe im Streit, und sogar der Kirchturm, der das Glockenspiel enthält, wird zum Faden im thematischen Gewebe des Buches, denn daß ausgerechnet Corinna ihn unschön findet, weil ihm bei seinem Streben nach oben »die Kraft ausgegangen' ist, beleuchtet ihre Blindheit ihren eigenen Plänen gegenüber. Von ihnen wird sie sich, wie hier den Lesern signalisiert wird, in dem Moment abwenden, wo sie ihr architektonisches Schönheitsideal auf ihre eigene Treu und Redlichkeit anwendet. Auch ihr wird auf halbem Weg nach oben die Kraft ausgehen.
Wie solche motivische Einbindung der wahrgenommenen Zeit in einer Fülle von Varianten in Fontanes Romanen auftaucht, sei nun an einigen Beispielen aufgezeigt.
In IRRUNGEN, WIRRUNGEN macht Fontane den Gegensatz von Lärm und Stille, von Zeitvergessenheit und Zeitbewußtsein zum thematischen Zentrum der Episode, die Lene Nimptschs ‘ letzte Begegnung mit Botho von Rienäcker darstellt. Ohne dabei die Uhr selbst schlagen zu lassen, deren Zeit aber von der Protagonistin wahrgenommen und kommentiert wird, wird die volle Stunde für Lene zur Mahnung an Verpflichtungen, nachdem ein anderes Geräusch sie vorher aus ihrer Selbstvergessenheit beim Anblick des bunten Markttreibens aufgeschreckt hat:
Die Sonne tat ihr wohl, und das Treiben auf dem Magdeburger Platze, wo gerade Wochenmarkt war und alles eben wieder zum Aufbruch rüstete, vergnügte sie so, daß sie stehenblieb und sich das bunte Durcheinander mit ansah. Sie war wie benommen davon und wurd' erst aufgerüttelt, als die Feuerwehr mit ungeheurem Lärm an ihr vorüberrasselte.
Lene horchte, bis das Gebimmel und Geklingel in der Ferne verhallt war, dann aber sah sie links hinunter nach der Turmuhr der Zwölf-Apostelkirche.
»Gerade zwölf', sagte sie. »Nun ist es Zeit, daß ich mich eile; sie wird immer unruhig, wenn ich später komme, als sie denkt.' (IW 102 f.)
Kaum aber ist Lene ausgeschritten, da begegnet sie Botho und seiner hübschen blonden Frau, und eine halbe Ohnmacht zwingt sie zu einer längeren Pause in einem Vorgarten: „Ach, wer weinen könnte.' (IW 104). So drängen sich Glücksgefühl und Verzweiflung, Zeitunterworfenheit und die Erholung im zeitlosen Unbewußtsein in schnellster Folge. Lenes früherer Liebhaber, der preußische Offizier, braucht solche Erinnerung durch die Turmuhr nicht; er legt sich die Verpflichtung zur Pünktlichkeit selbst auf:
»Sein Programm für die zwischenliegende Zeit ging dahin, daß er bis Mittag auf dem Eskadronhofe bleiben, dann ein paar Stunden reiten [...] wollte. (. ..) Und wie das Programm war, so wurd' es auch aus-
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