»Von dem beinah unmittelbar vor ihrem Fenster aufragenden Petrikirchturme herab schlug es eben neun, und die kleine französische Stutzuhr sekundierte pünktlich, lief aber in ihrer Hast und Eile den dumpfen und langsamen Schlägen, die von draußen her laut wurden, weit voraus. Alles atmete Behagen, am meisten der Hausherr selbst, [...].' (L 10)
Ist der ungleiche Rhythmus der schlagenden Uhren ein Zeichen für die Inkompatibilität des Ehepaares, bei dem die lebendige junge Frau aus der französischen Schweiz dem gesetzten Berliner weglaufen wird? Umgekehrt wie beim jedenfalls vorläufig noch vorhandenen Behagen der van der Straatens verstärkt ein nächtlicher Uhrenschlag in MATHILDE MÖHRING die Ängste der schlaflosen alten Frau Möhring, die Schillers DIE RÄUBER im Theater gesehen hat:
Es schlug schon eins, als sie sich aufrichtete und leise sagte: »Thilde, schläfst du schon?"
»Nein, Mutter."
»Das ist gut, Kind. Mir ist so angst. Ob es von dem Tee ist? Aber ich habe solch Herzschlagen und sehe immer den alten [...]'
»Ach, laß doch den alten Mann, Mutter. Der schläft nun schon zwei Stunden, und du mußt auch schlafen."
»Und das einzige is, daß der Rotkopf [...)'
»Ja, der hat nu seinen Denkzettel."
»Und was wohl aus dem armen Wurm, dem Fräulein, geworden ist? Wie hieß sie doch?"
»Amalie."
Richtig, Amalie. Ja, die is doch nu so gut wie eine Waise. Denn wenn sie den Alten auch wieder rausgeholt haben. Lange kann er's doch nicht mehr machen."
»Nein, das kann er nicht, Mutter. Aber jetzt werde ich dir ein Glas Wasser holen, und dann legst du dich auf die andere Seite."
»Na ja, ich werde bis hundert zählen." (MM 33)
Es ist, als ob der Ein-Uhr-Schlag die naive alte Frau aus dem Bann der Geisterstunde erlöst, so daß sie sich nun ihre haarsträubenden Erinnerungen an die Theateraufführung, die die nüchterne und mit ihren Heiratsplänen beschäftigte Mathilde offenbar nicht mehr beeindruckt hat, von der Seele reden kann. Man fragt sich nur, was für eine RÄUBER-Fassung damals in Berlin gegeben wurde, denn eine Version, in der Amalie überlebt, ist in der Schillerforschung nicht bekannt. Aber die Ironie der Episode besteht darin, daß ja die letzten anderthalb Akte von Schillers wildem Jugendstück mit der Befreiung des alten Moor und dem Tod seines meist rothaarig dargestellten Sohnes Franz selbst in der Geisterstunde nach Mitternacht spielen.
Der Stundenschlag als Faktor bei einem wichtigen Entscheidungsprozeß findet sich in STINE. Waldemar von Haldem kommt auf einem Spaziergang durch Berlin, dessen Stationen sehr genau festgehalten werden und die Erlebnisintensität des Spaziergängers spiegeln und dessen Eindrücke auf typisch Fontanesche Art zu einem symbolischen Tableau arrangiert werden, das als Seelenspiegel
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