Heft 
(1991) 51
Seite
151
Einzelbild herunterladen

fungiert, zu dem Entschluß, sein Leben zu beenden. Bei dieser Entscheidung wird im vielfältigen Schlagen der Uhren Waldemar die Zeit besonders nach­drücklich eingeprägt. In ihm aber reift gerade der Entschluß, sich der Existenz zu entziehen, die der Zeitlichkeit untersteht:

«Von der Dorotheenstädtischen Kirche her schlug es fünf, [...], und ehe noch die Turmuhr ausgeschlagen hatte, schlugen die kleinen Uhren nach, die sich in ziemlich beträchtlicher Zahl an der Wasser- und Rückfront der jenseitigen Fabrikgebäude befanden. Er zählte die Schläge, musterte den Quai hüben und drüben und freute sich des regen und doch stillen Le­bens, das hier überall auf und ab wogte. Nichts entging ihm, [...).' (S. 84 f.)

Wie so häufig bei Fontane ist hier das Atmosphärische entscheidend, das eine Reihe von Eindrücken begleitet, so daß ein Gesamtbild entsteht, das dem Leser die Deutung einer Handlung nahelegt, obwohl es schwer wäre, sie eindeutig einem bestimmten Stein im Gefüge zuzuweisen. Es findet ein motivischer und symbolischer Verdichtungsprozeß statt, an dessen Ende den aufmerksamen Le­sern Lichter aufgegangen sind. Nicht zuletzt in diesem allmählichen Einspinnen der Leser in das Bedeutungsnetz seiner Romane besteht der Reiz der Lektüre Fontanescher Romane.

Atmosphärisches begleitet in starkem Maß auch einen Stundenschlag in SCHACH VON WUTHENOW. Schach hat Victoire verführt, aber wie immer bei Fontane bleibt die eigentliche Szene bei einem so delikaten Ereignis ausgespart. Eine Leerzeile auf der Seite enthält den tatsächlichen Vorgang, vor dem Victoire Schachs Komplimentenwillenlos" undin einer süßen Betäubung' zuhört. Der nächste Abschnitt beginnt folgendermaßen:

Die Zimmeruhr schlug neun, und die Turmuhr draußen antwortete. Vic­toire, die den Schlägen gefolgt war, strich sich das Haar zurück und trat ans Fenster und sah auf die Straße.

Was erregt dich?"

Ich meinte, daß ich den Wagen gehört hätte."

Du hörst zu fein."

Aber sie schüttelte den Kopf, und im selben Augenblick fuhr der Wagen der Frau von Carayon vor.

Verlassen Sie mich [...) Bitte." (SvW 69)

Aus dem selbstvergessenen Liebesakt ruft die volle Stunde das Paar in die Zeit zurück. Nur Victoires unordentliches Haar weist die an solche Diskretion ge­wöhnten Leser des späteren 19. Jahrhunderts auf die menschliche Unordnung hin, die mit einer solchen Verführungsszene assoziiert wurde. Aber der Stun­denschlag mahnt Victoire auch an die zu erwartende Rückkehr ihrer Mutter vom Schauspiel. Ihre dadurch bedingte innere Erregung selbst wird allerdings nicht beschrieben; die Leser müssen sie vielmehr aus ihrer Geste, ihrem Schritt zum Fenster und Schachs Frage entnehmen. Gegenüber Schachs Skepsis behält sie in ihrer seelischen Empfindsamkeit recht: Der Wagen fährt tatsächlich vor, und

151