Heft 
(1991) 51
Seite
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schlagartig wechselt sie vom »du" zum »Sie* und stellt damit die gesellschaftli­che Distanz zu ihrem Verführer wieder her, der einer Begegnung mit der Mut­ter auf der Treppe nur durch das Verbergen hinter einem Pfeiler entgeht und mit dem zynisch-bitteren »erst die Schuld und dann die Lüge. [...] Das alte Lied' Victoires auf den vernommenen Stundenschlag zurückbezogene, aber nicht recht logische Begrüßung »Du kommst so früh. Ach, und wie hab' ich dich er­wartet' (SvW 70) quittiert. So wird das Schlagen der beiden Uhren zum Auslöser einer kurzen Szene voller seelischer Spannung, wie sie in ihrer gelungenen sug­gestiven Aussparungstechnik im deutschen Roman des 19. Jahrhunderts so mei­sterlich wohl nur bei Fontane zu finden ist.

V

Es gibt noch eine weitere Szene in SCHACH VON WUTHENOW, in der die Uhrzeit eine entscheidene, ja, noch zentralere Rolle spielt, nämlich das 14. Ka­pitel »In Wuthenow am See', das mit dem Satz »Es schlug Mitternacht, als Schach in Wuthenow eintraf; [...)' (SvW 92) beginnt und kurz von dessen Ende es heißt:

Als er wieder in dem Gartensalon war, schlug es zwölf. Er warf sich in die Sofaecke, legte die Hand über Aug' und Stirn und zählte die Schläge. »Zwölf. Jetzt bin ich zwölf Stunden hier, und mir ist, als wäre es zwölf Jahre.' (SvW 102 f.)

Auf den dazwischenliegenden zehn Seiten und zwölf Stunden sieht Schach zwei­mal nach der Uhr, hört er zweimal die Kirchenglocken schlagen, läßt er sich ein­mal die Uhrzeit sagen und hört zweimal eine Uhr schlagen (»[...) hörte, daß es zwei schlug. Oder bedeuteten die beiden Schläge halb? War es halb drei? Nein, es war erst zwei.', SvW 97). Das ständige Zeitmessen und -vergegenwär­tigen macht Schachs Schlaflosigkeit und innere Unruhe bewußt und begleitet die geistig vermutlich angestrengtesten zwölf Stunden seines Lebens, die Fontane bewußt auf den alten Familiensitz der Wuthenows verlegt, wo die Tradition schwer wiegt.

Das Resultat dieser zeitträchtigen Nacht aber ist gerade, daß Schach der Zeit entfliehen möchte, die ihn verfolgte, denn er entschließt sich von Mitternacht bis Mittag, die von ihm verführte Victoire von Carayon nicht zu heiraten, sondern sich statt dessen durch Selbstmord aus der fatalen Affäre zu ziehen. Insofern bildet dieses Kapitel die .Peripetie' des Romans, und es ist dementsprechend gegenüber allen anderen des Buches ausgezeichnet durch das intensive Zeitbe­wußtsein des Helden, das sich an äußeren Daten orientiert. In dem Kapitel wird die immer erneute Fixierung von Zeitpunkten zum Strukturelement der Szene. Durch das ständige Markieren von Zeit entsteht ein zäher Zeitfluß, der das lang­same und stockende Vergehen der Stunden dem Helden selbst einprägt. Er erfährt die Zeit in ihrem Ablauf.

Damit ist schon gesagt, daß diese Technik der Zeiterfahrung nur geeignet ist für den um seiner Wichtigkeit willen ausführlich erzählten kurzen Zeitraum, bei

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