Heft 
(1991) 52
Seite
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Das wenige jedenfalls, das Corinna an Erziehung genoß, stammt von der Schmolke, und Corinna ist sich dessen auch bewußt:Wenn Sie nicht gewesen wären, wer hätte mir denn überhaupt was gesagt ? Keiner. Ich bin ja wie wild aufgewachsen, und ist eigentlich zu verwundern, daß ich nicht noch schlimmer geworden bin als ich bin. Papa ist ein guter Professor, aber kein guter Erzieher." (120 f) Um so mehr verwundert es, daß der Dichter die Schmolke erst jetzt von der Tätigkeit ihres Mannes erzählen läßt, wo dieser Beruf für sie doch offen­sichtlich von so prägender Wirkung war und noch ist. Es können nur kompo­sitorische Gründe sein, die Fontane veranlaßt haben, entgegen aller Wahrschein­lichkeit erst in diesem Augenblick, da Corinna von ihrer Verlobung sprechen will, die Schmolke von der besonderen Aufgabe ihres Mannes als eines Be­amten bei der 'Sitte' reden zu lassen. Die Bedeutung dieses Begriffs muß Fon­tane für den Zusammenhang seines Werkes als außergewöhnlich angesehen ha­ben; denn solche Hinweise auf die 'Sitte' sind ursprünglich sehr viel zahlreicher gewesen. Aus Fontanes Briefwechsel mit Julius Rodenberg wissen wir, daß der Dichter auf Wunsch des Herausgebers der Deutschen Rundschau eine Über­arbeitung des Romans vorgenommen hat, deren Umfang uns unbekannt ist, weil das Manuskript verlorenging. Diese Umarbeitung betraf auch die 'Sitte': »Selbst hinsichtlich der .Sitte' bin ich erschüttert. Sicherlich entspricht die trühere Fassung mehr der Ausdrucksweise der Schmolke, aber darin liegt doch noch nicht die Rechtfertigung, und ich räume ein, daß diesem ewigen Operieren mit Sitte und wieder Sitte mal als Moral- und mal als Lokalbezeichnung, etwas Kom­mißhaltes anklebt. (Ha Br IV/164) Fontane hat also sehr sorgfältig erwogen, wo in seinem Roman und mit welcher Intensität von der 'Sitte' die Rede sein sollte. Daraus ergibt sich der klare Zusammenhang zwischen der Corinna- Handlung und Schmolkes dienstlichen Aufgaben:Und Schmolke war bei sol­cher Abteilung ... Und er war gerade bei der allerschwersten, die für den Anstand und die gute Sitte zu sorgen hat ... Und wenn nu ... solch' armes und unglückliches Geschöpf ... etwas gegen den Anstand und die gute Sitte tut, dann wird sie vernommen und bestraft. Und da, wo die Vernehmung is, da gerade saß Schmolke .. ." (118) Corinna begreift sogleich, wie schwer die Auf­gabe gewesen sein muß, denn wie leicht hätte Schmolke für die Halbweltdamen mehr werden können als ein strenger .Richter'. Daß er dieser Versuchung nicht erlag, gereicht ihm zum Ruhme. Noch überzeugender freilich wirkt er durch die Einstellung, die er zu den Dirnen hatte. Mit Erfolg hat er seine eifer­süchtige Frau beruhigt:.Rosalie, das is alles Unsinn ... ich sage dir, wer da so tagaus tagein in der Sitte sitzen muß, dem vergeht es, dem stehen die Haare zu Berge über all das Elend und all den Jammer ... wenn man das jeden Tag sehen muß, un man hat ein Herz im Leibe un hat bei's erste Garderegiment gedient un is für Proppertät und Strammheit und Gesundheit, na, ich sage dir, denn is es mit Verführung un all so was vorbei, un man möchte 'raus gehn und weinen ... und von Karessieren und ,Fräuleinchen ' steht nichts mehr drin .. (119 f)

Mit welch schlichter, sympathisch anrührender Menschlichkeit wird hier von den Opfern der Nachtseite der Welt gesprochen. Dabei ist daran zu erinnern. 35