sehen den Idealen des Bildungsbürgertums und den Geldinteressen des Besitzbürgertums, sondern der Konflikt zwischen einer materialistisch angekränkelten Schmidt und einer gesunden, echten Bourgeoise, die weiß, was sie will. Vor den Maßstäben Schmolkes kann Corinna nicht bestehen. Es mag sein, dag sie, den Geist der Zeit als Maßstab vorausgesetzt, nur unerheblich gegen Anstand und gute Sitte verstoßen hat. Vor ihrem Gewissen aber mug sie ihre Verlogenheit unverzeihlich finden. Ihre Worte: „Ja, Leopold, ein Leben voll Glück und Liebe liegt vor uns, aber es hat deinen Mut und deine Festigkeit zur Voraussetzung, und hier unter diesem Waldesdom, drin es geheimnisvoll rauscht und dämmert, hier, Leopold, mußt du mir schwören, ausharren zu wollen in deiner Liebe'" (113), mit denen sie, wie man zu Recht festgestellt hat, das poetische Pathos Jennys erreicht oder übertrifft, sollten den armen Leopold binden. Sie selber aber denkt nicht an Liebe, sondern an Riviera, Pleasure Yacht (160) und Brillanten im Ohr. (49)
Natürlich versteht die Schmolke Corinnas Abneigung gegen den kleinbürgerlichen Zuschnitt ihres Lebens nicht, wie sollte sie auch. Die Schmolke ruht in sich selbst und kennt die begehrlichen Blicke nicht, mit denen Corinna über den Zaun ihres eng begrenzten Daseins schaut. Wenn sie Marcell von den abendlichen Bettkantengesprächen mit der Schmolke erzählt (49), so schwingt darin ebensoviel Unzufriedenheit mit ihrer sozialen Lage mit wie ein von Spott und Mitleid grundiertes Überlegenheitsgefühl mit der ,guten', »lieben' Schmolke, die ihr Bestes tut, dem Haushalt des Professors ein wenig gutbürgerlichen Glanz zu verleihen, während Corinna das Leben einer unterbeschäftigten jungen Dame aus besserem Hause führt. In Wirklichkeit weiß die Schmolke den Charakter und die Lebensmöglichkeiten Corinnas wesentlich besser abzuschätzen als diese selbst. Zunächst könnte man zwar meinen, sie wolle sich nur den Anschein der Allwissenheit geben, wenn sie Corinna gegenüber feststellt: „du denkst, ich seh es nicht. Aber ich sehe alles und seh noch viel mehr —" (115) Aber wie gut sie Corinna kennt und wie scharf sie sie im Auge behält, das beweisen ihre Versuche, mit Corinna über deren Lage nach der Verlobung ins Gespräch zu kommen; Versuche, die Corinna redeunwillig abblockt, bis dann endlich der Augenblick für eine Mitteilung da ist.
Freilich wird man zugeben müssen, daß die Schmolke an dem Dilemma, in dem Corinna steckt, nicht ganz unschuldig ist, denn für eine Weile hat sie selber ihre Geradlinigkeit verloren. Sie ist, bei all ihren kleinen menschlichen Schwächen, angelegt als eine Vertreterin strenger Moralität, als eine strikte Verfechterin der bestehenden Ordnung. Aber durchweg hat sie ihre klare Linie doch nicht festgehalten. Als Corinna vor ihrem Verlobungsgeständnis über die pädagogischen Fähigkeiten ihres Vaters reflektiert, zeigt sich, daß die Schmolke wenig Sinn für die erzieherischen Bemühungen des Professors hat: ,„ mitunter ist eine Maulschelle besser.'" (121) Eine Lebensweisheit, die heute umstritten ist, zu der sich Fontane aber ohne Zweifel bekannt hat, denn wer mit der Peitsche erzogen worden ist, den dünkt eine Maulschelle als eine seelenvolle Handreichung aus der pädagogischen Provinz. Corinna reagiert erstaunlich: „Um Gotteswillen, liebe Schmolke, sagen Sie doch so was nicht. Das
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