einem klareren Blick für die Wirklichkeit kann man vor einer Eheschließung nicht argumentieren. Wenn Fontane sagen konnte, er habe zu den großen Leidenschaften nicht den rechten Fiduz gehabt, so läßt sich schließen, daß die Schmolke Geist von seinem Geist besitzt.
Hinzuweisen ist noch auf ein Motiv, das im Roman mehrfach auftaucht. Es geht um die Tränen der beteiligten Personen. Die Schmolke räumt von sich ein: „.mir sitzen sie auch man lose'". (122) Und sie sagt das zu ihrer Verteidigung, denn sie hat Jenny eben ihrer Tränen wegen attackiert und sucht nach einer Rechtfertigung für ihren eigenen Tränenfluß. Deshalb erzählt sie Corinna von ihren Theaterbesuchen mit Schmolke, wobei ihr eine Aufführung der Maria Stuart besonders in Erinnerung geblieben ist, weil sie dort ,„ manche schöne Träne vergossen“ habe. (122) Als sich Maria (.„Die hieß die Erharten, die nachher einen Graten geheiratet'“) vor der Hinrichtung von ihren Dienerinnen verabschiedet habe, da „.war denn doch eine Schnauberei, daß man gar nichts mehr verstehn konnte'“. (122) Das Motiv wird nicht entwertet, weil statt von der eigenen Rührung von einer allgemeinen Tränenseligkeit gesprochen wird, denn es bleibt doch sicher, daß diese Tränen einer wirklichen Betroffenheit entspringen und daß sie ihr Herz erleichtern. (Man vergleiche die Theaterkritik Fontanes zur Abschiedsvorstellung der Schauspielerin Luise Erhartt am 31. 5. 1878 [NFA XX/1, S. 689] wo von „ aufrichtigen Tränen“ gesprochen wird.) Echte Tränen stammen aus einem gerührten Herzen. Wenn Schmolke also selber vom Elend jener Straßenmädchen berichtet und gesteht, daß er angesichts der dort erfahrenen Not „'raus gehn und weinen’" (120) mußte, so wird ausdrücklich vorausgeschickt, daß man „ein Herz im Leibe'“ haben müsse, um das Elend so tief empfinden zu können. Und als sich die Wülsten bei Corinnas Hochzeit wegen ihres Fernbleibens entschuldigt, „weil sie Lizzi, das süße Kind, doch nicht allein lassen könne'“ (163), da findet sich auf ihrem Briefbogen ein Fleck, den Marcell so deutet: „Ein Träne, und ich glaube, eine echte.“ (163) Die Wulsten, von der sonst im Roman kaum die Rede ist, erfährt in diesem Satz eine Aufwertung. Für sie ist das „süße Kind' nicht eine Floskel, sondern ein Herzensanliegen.
Und Jenny? Der entscheidende Einwand der Schmolke gegen sie lautet, daß sie nicht zu weinen vermag. Sie gibt sich zwar den Anschein, von allem Poetisch-Schönen, von allem menschlich Bewegenden („von einem Pudel, der ein Kind aus dem Kanal gezogen" 122) zu Tränen gerührt zu sein, aber ihr Weinen ist von besonderer Art. Ihr steigen Tränen in die Augen, doch diese Tränen sind „ Stehtränen, die gar nich 'runterwoll'n." (122) Das ist nicht ein Zeichen von Selbstbeherrschung, sondern ein Hinweis darauf, daß ihren Tränen etwas Elementares fehlt. Ein kaltes Bewußtsein bremst jede Rührung und verhindert jede Spontaneität. Ihre Tränen korrespondieren mit ihren Ohnmächten. Wenn sie wirklich einmal weinen sollte, was der Text nicht ganz ausschließt, sind die Tränen gewollt und deshalb blanke Heuchelei. Welcher Abstand liegt zwischen den Kunsttränen Jennys und jenen Tränen der Schmolke, von denen sie sagt: sie „ stürzten mir denn... man so pimper- lings ‘raus’“. (119 ) 42