Heft 
(1991) 52
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sein, daß der eine oder andere das halb verschüttete Bewußtsein in sich trägt, zu Höherem berufen gewesen zu sein; die Wirklichkeit hat längst alle zur Strecke gebracht.

Eine Sonderstellung unter all den Figuren nimmt die Schmolke ein. Glück hat für sie nichts zu tun mit egozentrischer Selbstverwirklichung. Das Glück in ihrem Leben gründet darauf, andere glücklich zu sehen und zu ihrem Glück beizutragen:Du kannst doch nich die ganze Welt auf den Kopp stellen un dein un andrer Leute Glück, worunter auch dein Vater un deine alte Schmolke is, verschütten un verderben wollen, bloß um der alten Kommerzienrätin ... einen Tort anzutun.'" (151) Dem raschen Leser mag es scheinen, als ginge es hier allein um ihr eigenes Glück, aber dieses Glück stellt sich doch nur her, wenn Corinna glücklich wird. Es ist ein fast selbstloses Glück, nach dem sie verlangt. Ihre eigene Erfüllung findet sie in der Arbeit, im Einsatz für an­dere. Nichts, was sie tut, tut sie halbherzig. Sie arbeitet mit Fleiß und Hin­gabe und lebt für die Familie.

Natürlich ist der Mensch, wie er ist. (Fontane hat diese Redewendung auch sonst gebraucht. Was die Schmolke sagt, entspricht also seiner Einstellung. So heißt es in einem Brief an Mathilde von Rohr über die zweite Frau Bern­hard von Lepels: Sie ist doch nun mal wie sie ist", und er fügt hinzu:und zu meinen kleinen Tugenden zählt die, die Menschen nicht ändern zu wol­len." [Ha Br III//58] Wie schwierig das ist, erfährt Corinna am Beispiel Leo­polds.) Aber was die Schmolke da über Leopold, auch aus Gutherzigkeit, sagte, um ihn der Forderung zu entheben, sich selbst überwinden zu müssen, das läßt sie für sich keineswegs gelten. Für sich selbst hält sie dafür, daß sie ihr Leben auszufüllen hat bis an seine äußersten Grenzen. Und innerhalb dieser Grenzen gibt es nichts Unmögliches, nichts, was nicht durch äußersten Einsatz zu leisten wäre.

Wenn man sich erinnert, was Fontane an Jenny Treibel bloßstellen wollte, nämlich dasHohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige" ihres bourgeoisen Charakters, so wird einsichtig, daß die Schmolke von allen diesen Eigenschaften nicht eine einzige besitzt, ja noch nicht einmal eine Andeutung davon. Selbst wenn sie Schiller sagt, meint sie Schiller und nicht Gerson. Sie ist in allem das vollkommene Gegenteil von Jenny, deren soziale Überlegen­heit sie ausgleicht durch ihre Superiorität in der menschlichen Substanz, die ihr auch das Recht gibt zu entschiedenen Urteilen über ihre Mitmenschen. Ihre Verläßlichkeit und Treue machen sie zu einer unentbehrlichen Hilfe, die auch in Kleinigkeiten eine angemessene Nachsicht genießt. Wie sehr beein­druckt es den Leser, wenn sie während des Gesprächs mit Corinna, als ihr die Tränen kommen, mit der größten Selbstverständlichkeit an Corinnas Wäsche­schrank geht, um sich ein Taschentuch zu holen. Solche kleinen Zeichen offen­baren ein Vertrautsein, das die Grenzen der bürgerlichen Konvention weit hinter sich läßt.

Allerdings kann sie auch dendenkbar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie" (51), nicht einnehmen. Sie ist aber auch die einzige, die nicht gewinnen würde dadurch, daß sie sich selbst in Frage stellte. An ihr ist alles

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