Heft 
(1991) 52
Seite
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Ob Minna von Klöden die Novelle gelesen und ihre gemeinsame Erinnerung darin erkannt hat? Eine klare Bestätigung gibt es nicht. Tatsache ist jedoch, daß das Ehepaar von Klöden ein erstes Treffen nach vierzig Jahren am 10. De­zember 1879 bei Fontanes älterer Schwester Jenny arrangierte. Worüber ge­sprochen wurde, verriet Fontane nicht, sondern betonte seiner jüngeren Schwester gegenüber Minnas Runzeln und Hautfarbe.

Aus diesen Hinweisen kann nun folgender persönlicher Untertext hypothesiert werden: der alte Minde entspricht Großvater Fontane und Minna Krauses Vater zugleich. Die Herkunft von Gretes spanisch-belgischer Mutter deutet in Richtung Frankreich. Weil ihr die Umgebung diese Erbschaft in Abrechnung stellt, gewinnt Fontanes emotionelle Identifikation mit Gretes Enterbung auch gesellschaftskritische Relevanz.

Wie konnte Theodor aber als Liebhaber aus seiner Haut? Er mußte zugeben, seine Minna ziemlich kampflos aufgegeben zu haben. Also stattete er sie - wie es später sein Leopold Treibel mit Corinna Schmidt gern getan hätte - mit dem ihm fremden Kampfgeist aus. Anders als beim erzwungenen Rückzug der Fontanes aus Swinemünde, zieht sie erbost ihren Valtin aus Tangermünde mit sich fort. Diesmal in der Phantasie kann er, wenn auch nur passiv, mit Minna durchbrennen, mit ihr in und gegen die Welt hinaus. Doch es kommt, was kommen muß; für alle Beteiligten geht es schief, denn der Träumer be­stätigt die Handlungsweise des Lebenden. Die Novelle stellt einen tragischen Aufschrei gegen die Gesellschaft dar, aber im Untertext söhnt sich der Dichter mit ihr wieder aus. Was kann als Fazit der privatpsychologischen Aspekte von Grete Minde gelten? Zunächst deuten diese auf ein starkes Bedürfnis nach Flucht in die Vergangenheit, das sich jedoch durch Umlenken auf einen geeig­neten Stoff umfunktionieren ließ, d. h., da der krisenbewußte Dichter sich be­stimmter Phantasien nicht erwehren konnte, verband er das eigeneWähnen" - um Wagners Modewort zu bemühen - das ihn noch in späteren Jahren heim­suchen würde, mit dem seiner gewählten Protagonistin. Es ist ein geradezu klassischer Fall der Sublimierung.

Ob nun seine Tagträume genauso aussahen, wie sie hier aus seinen Andeutun­gen heraus synthetisiert wurden, ist einerseits zweifelhaft, andererseits nicht sehr wichtig. Es sind weniger die menschlichen, vielmehr die dichterischen Tagträume, die unser Interesse rechtfertigen, d. h., das, was wir aus seinen Dichtungen und relevanten Überlegungen ermitteln können, ist das Eigentliche. Dabei muß man konstatieren, wie allzumenschlich, ja gelegentlich lächerlich diese synthetisierten Tagträume auf uns wirken können. (Der Leser möge dem Verfasser allerdings verzeihen, falls er zu denen gehört, die immer wieder daran denken müssen, warum sie einen gewissen Jemand nicht geheiratet ha- ben.) Unedierte narzißtische Vorstellungen, auch die eines großen Dichters, erwecken selten die Bewunderung anderer, im Gegenteil. Vergessen wir auch nicht, daß Fontane noch ein Mensch des 19. Jahrhunderts war, der das Heraus­kehren des Narziß für schwach, krankhaft und egoistisch hielt. Die Anzeichen davon in der Dichtung, etwa bei Wagners Wotan oder bei Gutzkows Helden,

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