lehnte er höhnisch ab. Wir sind heute mit Narzißtischem derart überhäuft, daß es geradezu erfrischend wirkt, wenn er ähnliches bei sich beobachtet und sich daraufhin selbst ein Schaf nennt.
Eigentlich begründet wird diese Untersuchung, wenn ihre Ergebnisse der Entstehungsgeschichte zugute kommen. Darum sei angemerkt, daß die Psychologie, gleichgültig wie unübersehbar die Spuren sind, nicht von der Chronik der Entwicklung abgekoppelt werden darf. In dieser tagträumerischen Phase im Sommer 1878 hat Fontane keine großen Fortschritte mit einer Niederschrift gemacht. Noch Mitte August klagt er darüber, wenn er seiner Frau eine Reise an die Stätte seiner Kindheit, auch seiner Minna-Zeit, vorschlägt, offenbar in dem Glauben, der Anblick der entsprechenden Szenerie werde ihm die nötige Inspiration geben. 18 Daher müssen wir feststellen, diese Tagträume reichen nicht aus, weder die Novelle noch ihre Entstehung hinreichend, sondern nur teilweise zu erklären. Hier wirkt sich wohl der Mangel an eigener Tragik aus, daß sein Phantasieren allein die Novellenhandlung doch nicht zu tragen vermochte. Die Ankündigung am 11. September 1878, er habe seine erste Niederschrift fertig, 19 offenbart jedoch einen weiteren psychologischen Anstoß, nämlich die Aufregungen, die seine damals 18-jährige Tochter Martha verursacht hat. In der Novelle selbst sucht man wahrscheinlich vergebens nach den Spuren der Verlegenheit, die sie ihren Eltern Mitte August bereitete, als sie eine Einladung zu der befreundeten Familie Stockhausen platzen ließ, um den häuslichen Frieden dort nicht zu stören, weil sie zu Herrn Stockhausen „eine so starke Zuneigung" entwickelt hatte. 20 Die Auswirkungen dieser Verlegenheiten sind vielmehr erst in L'Adultera deutlich zu erkennen. Trotzdem könnte man vortastend wenigstens die Hypothese anbieten, Fontane habe erst dann seine Jugendphantasien in Dichtung umsetzen können, als die Wirklichkeit ihn daran erinnerte, daß er kein leidender Jüngling mehr war, sondern Vater einer verwirrten Tochter. Überhaupt zeigt gleich der folgende Abschnitt, daß es zeitgenössische, reale Einflüsse waren, die Grete Minde die zum „Durchschläger' nötige Vitalität und Relevanz verliehen.
Dennoch leidet die Novelle keineswegs an ihren biographischen Elementen; vielmehr liefern die Spuren privater Tagträume Einblick in die zeitlos jugendliche Erotik, mit der der Leser eingefangen wird. Sie schaffen somit erst die Stimmung, mit der Fontane ein tragisch-gefährliches Schicksal begründet. Vielleicht kann man diese Tragik das Scheitern vor der Aufgabe des Erwachsenwerdens nennen. Diese Untersuchung zeigt, wie Fontane die gleiche Veranlagung bei sich begriff und bekämpfte, zeigt, wie ein bald Sechzigjähriger immer noch an seinem inneren Jüngling leiden — und dann noch die Kraft daraus zu einem großartigen Neuanfang schöpfen kann.
4. Wenn die Zeitgeschichte mitschreibt
Ohne die psychologische Abstimmung des Dichters auf seinen Stoff wäre Grete Minde bestimmt nicht der Dauererfolg geworden, der sie trotz vieler ablehnender Kritikerstimmen nicht nur in Deutschland selbst, sondern dank ihrer
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