Heft 
(1991) 52
Seite
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Beliebtheit im Deutschunterricht auch im Ausland geblieben ist. Aber ihren durchschlagenden Erfolg verdankt sie - das wollen wir jetzt ausführen - dem Umstand, daß die Leser von 1879 die aufregenden politischen Ereignisse des Vorjahres dahinter verspürten. Trotz einiger Ansätze ist dieser Hintergrund bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden. 21 Statt dessen wurde betont, wie sorgfältig Fontane die Stadt Tangermünde am Anfang des 17. Jahrhunderts dargestellt hat und daß die Handlung auf unwesentlich geänderten historischen Tatsachen basiert. Man betonte auch den Fontaneschen Hang zu poetischer Kleinmalerei, diesmal in einem nachempfundenen Alte-Chronik-Stil.

Die für ihn ungewöhnlich gewalttätige Entwicklung der Handlung vom be­drohten Kindheitsidyll zur höllischen Brandstiftung ist geradezu opernreif: wäre das nicht ein Stoff gewesen für, sagen wir, Anton Bruckner? Daß die Novelle den Geschmack der Zeit auf den Kopf traf, hat ihr Peter Demetz aus­drücklich zum Vorwurf gemacht, aber das war auch bestimmt der Grund, wes­halb Paul Heyse sie in seine Novellensammlung aufnahm und somit den Dauer­erfolg garantierte. Das sind faszinierende künstlerische Aspekte, und doch hatten sie keinen Anteil an der ursprünglichen Entscheidung, die Novelle überhaupt zu schreiben oder an den mit ihr verbundenen Absichten. Letztere verraten dieselben Zeugnisse, die Fontanes persönlichen Untertext belegen, wie vor allem der bereits zitierte Brief an Ludwig vom 2. Mai 1878:

Ich schrieb in meiner Kritik: .wer den K. Moor spielen wolle, müsse noch an ihn glauben." Aus ihrem Briefe erseh ich, daß Sie dies thun, aber zugleich auch daß Sie zu sehr und zu ti ef an ihn glauben. Und das ist, meines Erachtens, wieder ein Fehler, ja, sogar ein gefährlicher. Denn es steigert das Element, mit dem wir uns 1878 nicht mehr ver­söhnen können?22

Wer auf deutsch die WörterFehler" undElement" und die Jahreszahl so ver­wendet, der meint das Gesagte erfahrungsgemäß politisch und aktuell. So be­zieht man unter vier Augen Stellung. Da er aber auch behauptet hat,genau so wie Karl Moor" zu empfinden, sollten wir neben seinem sentimentalen per­sönlichen Mitempfinden auch sein zeitgenössisch-politisches zu ermitteln ver­suchen, das ebenfalls auf die Novelle eingewirkt hat. Es klingt, als ob er mit Grete Minde den ewig jungen, rebellischen und Gerechtigkeit fordernden Im­puls, den Karl Moor verkörpert, den Gegebenheiten und Bedürfnissen seiner Gegenwart anpassen wollte. Wenn man sieht, was sich ab Mai 1878 auf der politischen Bühne abspielte, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als hätten auch diese Ereignisse Fontane in seinem Entschluß bestätigt, ja, als hätte die Zeitgeschichte selbst seinen Psychographen geführt.

Keine Woche war nach seiner Entscheidung vergangen, als am 11. Mai der verstörte Schustergeselle Hoedel ein Attentat auf den Kaiser verübte. Und schon am 2. Juni folgte das beinah erfolgreiche des Dr. Karl Nobiling. Obwohl beiden Attentätern keine Verbindung zur Sozialdemokratie nachzuweisen war, nutzte Reichskanzler Bismarck die Welle der Empörung schamlos aus, um seinen Wechsel von der liberalen zur konservativen Koalition zu begründen und in den Augustwahlen zu besiegeln. 57