Heft 
(1991) 52
Seite
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Weil diese Ereignisse noch 1879 allen frisch in Erinnerung waren, und wenn wir davon ausgehen, daß etwas vom Geiste Karl Moors an Grete Minde haften blieb, dann können wir relativ leicht ihre Wirkung auf das zeitgenössische Publikum nachempfinden. Sie ließ genau die Saiten anklingen, die bei den Attentaten und dem Wahlkampf so laut getönt hatten. Und dennoch lehrt die Verstiegenheit der Heldin und ihre selbstzerstörerische Wahnsinnstat die Not­wendigkeit einer Versöhnung nach allen Richtungen. Zwar steigert die Novelle jenes Element, mit dem man sich 1878 angeblich nicht mehr versöhnen konnte, aber sie begründet es auf eine Weise, die ihm jede Nachahmung verbietet, während sie ihm, wenigstens im Tode, Gerechtigkeit widerfahren läßt.

Diese differenzierte Haltung gegenüber angeblichen Staatsfeinden zeigen auch die Briefe gleich nach dem Nobiling-Attentat:

Alle diese Leute sind uns vollkommen ebenbürtig und deshalb ist ihnen weder der Beweis zu führen,daß es mit ihnen nichts sei ", noch ist ihnen mit der Waffe in der Hand beizukommen. Sie vertreten nicht blos Unord­nung und Aufstand, sie vertreten Ideen, die zum Theil ihre Berechti­gung haben und die man nicht todtschlagen oder durch Einkerkerung aus der Welt schaffen kann. Man muß sie geistig bekämpfen, und das ist, wie die Dinge liegen, sehr, sehr schwer

Natürlich fallen solche Briefäußerungen nicht so aus, wie wir sie gerne hätten, aber es ist offenbar, daß der bisherige Bismarck-Anhänger Fontane nicht ge­willt ist, in den demagogischen Chor einzustimmen. Am gleichen Tag schreibt er seiner Tochter Martha, die ja nicht beruhigt werden muß, weil sie die Skepsis des Vaters teilt:

Ueber Dr. Nobiling verbreit ich mich nicht; die Zeitungen bringen alles was sie wissen und nicht wissen. Von letztrem am meisten. So die rührende Geschichte von der Confrontation von Mutter und Sohn, die, schlecht gerechnet, eine Million Thronen hervorgerufen hat, denn Rührseligkeit und Thränendrüse sind auch der entarteten Menschheit treugeblieben. Ich traute übrigens der Geschichte gleich nicht. Es sind ja doch alles gebildete Menschen, und da fand ich den Anfang des Dialogs: .Karl, hast Du Geld genommen?' etwas unterm Stand. Die Frage, so conspicuously [ = auf­fällig - Verl.] in den Vordergrund gestellt, kann nur von einem Reporter herrühren, der keins hat. 2 4

Durch Fontanes Augen betrachten wir die politische Aufregung in der Haupt­stadt ähnlich wie seine Reaktion auf Die Räuber, als lebendiges .Theater".

Ist nicht auch die Tatsache, daß er gerade diesen reißerischen - erfundenen, denn Nobiling hat sich selbst angeschossen und ist nie wieder zu Bewußtsein ge­kommen - Zeitungsbericht weitergibt, ein Zeichen für sein Bemühen, mit der neuen Novelle die Karl-Moor-Wahrheit in seine Gegenwart zu transponieren? Denn hier fällt wieder ein Detail ins Auge, nämlich, daß der AttentäterKarl" hieß. So wäre Fontanes Sarkasmus doch nicht so unangemessen, wie es zunächst scheint. Und wenn wir bei Nobiling an Karl Moor denken, sollte sich uns da nicht die Frage aufdrängen, wer hier wohl die Rolle vom intriganten Bru- 58