Betrachtet man Fontanes Entwicklung und die beiden Stränge seiner Identifikation mit seinem Stoff, so scheint Grete Mitide nicht nur als Liebesgeschichte die Antigeschichte seiner Versöhnung mit der Gesellschaft, sondern als Milieuschilderung auch seine aktuellen politischen Sorgen zu verstecken. Lauert in ihrem Rachedurst vielleicht ein bißchen Fontanesche Rage über die politische Entwicklung?
Wie könnten also politisch-allegorische Lesarten der Novelle aussehen? Sicher sind Handlung und Figuren nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, sondern bieten mehrere Möglichkeiten der Zuordnung an, denn Fontanes Versteckspiel zielt auf Mehrdeutigkeit ab.
Wenn wir es mit den Figuren und ihren Taten versuchen, so könnte der meineidige Halbbruder Gerdt - der Bismarckianer Innstetten heißt Geert - leicht den Part des Kanzlers einnehmen, wobei die enterbte Grete die Rolle der abservierten Liberalen bekäme. Doch eine solche Lesart muß wegen Gretes Diskriminierung auf Grund ihrer katholischen Herkunft widersprüchlich wirken, weil ausgerechnet die Liberalen den sogenannten Kulturkampf 28 gegen die politische Macht der katholischen Kirche vorangetrieben hatten. Zur Ernsthaftigkeit dieses Motivs sei angemerkt, daß die Novellenhandlung in der Zeit kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges stattfindet.
Wenn wir aber nicht die Liberalen allgemein, sondern den Liberalen Fontane dahinter begreifen, dann wird dank seiner besonderen Persönlichkeit, Einstellungen und Herkunft aus dem Widerspruch wieder eine Logik. Zwar stammte er von hugenottischen Emigranten ab, doch die Herkunft war ihm ins Gesicht geschrieben. Und an der Politik der siebziger Jahre ging Fontane nichts so sehr gegen den Strich wie der antikatholische Kulturkampf. Seine Kritik am Freund Lepel zeigt, daß er den Antikatholizismus für den Widerspruch der Liberalen hielt. Und Gretes Vereinsamung hängt auch zu sehr mit ihrer Herkunft und ihrem Aussehen zusammen, als daß Kulturkampf und Franzosenhaß bei einer politischen Lesart unterschätzt werden dürfen.
Gretes verstorbene Mutter war nicht nur katholisch, sondern über ihre Heimatstadt, das von den Spaniern besetzte Brügge, eigentliche spanischer Herkunft; kurz, sie war Besatzungskind, und jeder Deutsche weiß, was das für sie bedeutet. Bedauerlicherweise sehen die Kommentatoren in Fontanes Hinweis auf die Hinrichtung des belgischen Helden Egmont nur einen Irrtum, weil diese nicht in Brügge, wie es in der Novelle heißt, sondern in Brüssel stattfand, doch das ändert nichts an der Aussage. Grete ist die Saat von den Schergen der Inquisition, die gerade bei den hauptsächlich protestantisch-liberalen Kulturkämpfern das Blut zum Sieden brachte. Solche Vorurteile, die zwar auf liberale Grundsätze zurückgingen, schlugen leicht in Selbst- und Ungerechtigkeit um und wurden in der Diskriminierung Gretes thematisiert.
Lesen wir aber die Handlung als Fontanes Auseinandersetzung mit den Folgen des Kulturkampfes, liest man die Diskriminierung Gretes als Chiffre für die Diskriminierung der Katholiken, so muß sich auch die Frage aufdrängen, wie ihr Wahn und ihre Rache, die Brandstiftung, einzuordnen sind. Könnte man ihren Racheakt nicht parallel dazu lesen, wie mancher katholische Politiker auf
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