Heft 
(1991) 52
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die diskriminierende Politik reagiert hat? Es ist zwar nicht allgemein bekannt, ab er anstatt sich frontal gegen den sich in dieser Politik äußernden Druck

zur Wehr zu setzen - man war ja an die parlamentarische Demokratie nicht

gewöhnt und sollte es auch nicht werden machten -, findige Agitatoren eine antisemitische Gegenkampagne daraus, denn im Vorstand der liberalen Regie­rungsparteien saßen überproportional viele Juden oder Protestanten jüdischer Herkunft. 29 Diese Taktik, die auf mittelalterliche Weise den Anschein der Loy­alität gegenüber dem Kaiser wahrte, war so erfolgreich, daß um 1878 der Funke auf norddeutsche protestantische Agitatoren übersprang, die sie ihrer­seits nicht nur auf die Liberalen, sondern auch auf die ähnlich angreifbaren Sozialisten anwandten. 30 Die Langzeitfolgen jener Entwicklung sind hinlänglich bekannt.

Natürlich bleibt die Frage offen, ob zeitgenössische Leser - es müssen lange nicht alle sein - eine solche politische Allegorie hinter der Novelle gesehen oder geahnt haben. Obwohl eine solche Lesart nirgends Verbreitung gefunden hat, ist die Frage berechtigt, ob die verkleidete bleibende Relevanz der Novelle nicht auch der Hauptgrund für ihren dauernden Erfolg gewesen ist.

Der Verfasser bekennt, schon bei der erstmaligen Lektüre von Grete Minde vor vielen Jahren und ohne große historische Kenntnisse das Gefühl gehabt zu haben, dieses Werk setze sich weniger mit der Vergangenheit als mit Dauer­problemen der deutschen Gesellschaft auseinander. Inwiefern die-oben ange­botenen allegorischen Lesarten allen Andeutungen des Textes tatsächlich ge­recht werden, wird noch zu prüfen sein. Auf jeden Fall müßte jetzt feststehen, daß es Fontanes Sorgen um die politische Entwicklung waren, die die Durch­führung eines anfänglich persönlichen Anliegens ermöglichten. Denn die zeit­gleiche historische Betrachtung weist nicht nur eine thematische Relevanz, son­dern auch eine emotionelle, ja extremistische Intensität auf, die ohne weiteres die Thematik und extreme Handlung der Novelle zu tragen vermögen.

5. Kritische Konsequenzen

Die literarisch-künstlerische Komponente bei der Entstehung von Grete Minde behandeln wir zuletzt. Was ist damals passiert, daß diese Novelle eine so auf­fällige und bleibende Wende in Fontanes Erzählstil eingeleitet hat, daß er nach wenigen Jahren gestehen mußte, er könne sich kaum noch an seinen Roman erinnern? 31 Mit Vor dem Sturm war es Fontanes verkündeter Ehrgeiz gewe­sen, der preussische Walter Scott zu werden. Das fing an bei einem zeitlichen Abstand zum Thema von sechzig Jahren und schlug sich auf jeder Seite in einem ausladenden, komentarreichen Erzählfluß nieder, der mit der typisch Scottschen Wendung .unser Held' markiert wurde. (M. E. könnte man vom er­sten Roman als Fontanes Doktorarbeit sprechen.)

In Grete Minde bleibt kaum eine Spur davon übrig. Erstens ist es ein Büchlein, das nirgends vom Thema abschweift, sondern stramm bei der Novellenform bleibt - auch wenn Experten ein Zuviel an Psychologie bemäkeln - und zum Verschlingen einlädt. Zweitens ist der Stoff schon 250 Jahre alt, während seine

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