Schiller ist sakrosankt. Gutzkow hat ganz recht, wenn er gegen diese schnöde Kritiklosigkeit, die sich hundert hohe Namen gibt und im Grunde nichts ist als Nachplapperei, Feigheit und Ungerechtkeit, protestiert. 35
Sollte das ein Versuch gewesen sein, den Gefürchteten gnädig zu stimmen? Jedenfalls beweist jene ängstliche Reaktion, wieviel Gewicht er Gutzkows Meinung beimaß, und wie stark die bereits erschienenen ihn enttäuscht hatten. Demgegenüber ist es Nebensache, daß es doch kein «G.' war, sondern das „Q" seines Bekannten Otto Roquette - und auch kein Verriß.
Von einem «heiteren Darüberstehen' ist hier nichts zu spüren. Er fürchtet sich vor den Rezensionen, die jetzt alle paar Tage erscheinen, vor ihrem Inhalt und wohl auch vor ihren Auswirkungen auf den Verkauf seines Romans. Warum er sich ausgerechnet vor der Reaktion Gutzkows besonders zu ängstigen scheint, mag damit Zusammenhängen, daß er zu den anderen relativ freundliche Beziehungen pflegt. Ob Gutzkow Vor dem Sturm überhaupt gelesen hat, ist unbekannt; von ihm kommt auch keine Rezension mehr, sondern eine Nachricht, bei der es Fontane «ganz graulich' (an Hertz, 17. 12. 1878) wird.
Halbblind und von Wahnvorstellungen gehetzt, tötet sich Gutzkow zuletzt durch Gift und Feuer; in der Nacht vom 15. aut den 16. Dezember 1878 nahm der Siebenundsechzigjährige eine starke Dosis Chloral, stieß die Nachtlampe um und verbrannte, bei betäubtem Bewußtsein, im Bett , 36
Statt einer Rezension bekommt Fontane etwas zu hören, das ihm, dem in solchen Situationen ziemlich Abergläubischen, wie die Vorwegnahme des Novellenschlusses wirken . .. könnte. Dieser Tod hat ihn tief erschüttert; aber wir bekommen nur sehr indirekte Hinweise, ob und wie seine Arbeit dadurch beeinflußt wurde. Weiter schreibt er Hertz am 17. 12,
Er war ein brillianter Journalist, der sich das Dichten angewöhnt hatte und es ähnlich betrieb wie Correspondenzen und Tages-Artikel schreiben; das hält aber die Dichtung nicht aus. Die bedarf mehr Pflege und Liebe. Auerbach sagte mir mal: „die ganze Gutzkowsche Produktion drehe sich um Gutzkow selbst" - ich glaube, dies ist richtig, und damit ist ihr Todesurteil ausgesprochen.7 3
Eben diesen Kampf hat Fontane wieder einmal hinter sich, den Kampf mit dem eigenen Ego — aber die Charakterisierung von Gutzkow macht diese Stelle zum ungewollten Bekenntnis. Zwar ist diese Nachschrift wahrscheinlich ohne viel Nachdenken entstanden, aber gerade das macht ihren psychologischen Wert aus, denn auch der Journalist Fontane ist dabei, «sich das (Roman-)dichten anzugewöhnen'. Somit schreibt Fontane hier über sich selber, hat seine Ängste in den gefürchteten Kritiker hineinprojeziert. Wir können nicht bestimmen, zu welchem Grade diese Nachricht auf die Endfassung von Grete Minde eingewirkt hat, obwohl sich in zwei Monaten einiges ändern läßt. Vielleicht wirkte sie nur wie die Attentate, d. h., als unverhoffte Bestätigung, den rechten Stoff zur rechten Zeit angepackt zu haben. Aber sein Verhalten bei der Todesfeier zeigt, daß er seinen Zeitgenossen durchaus zutraute - oder zumutete? -, hinter der
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